Rede anlässlich meines Abschieds vom Ernestinum am 30. Januar 2004
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Freundinnen und Freunde,
In meinem Geburtsjahr 1939 schrieb Brecht sein Gedicht „An die Nachgeborenen“. Die darin gestellten Fragen, was wir denn wohl den nach uns Kommenden mitzuteilen haben, was wir an Rückblicken über uns und unsere gelebte Zeit zu vermitteln haben, beschäftigt mich. Zwei Fragen habe ich mir am Ende meiner Schulzeit am Ernestinum gestellt: Was hat mich geprägt? Was war mir wichtig, zu vermitteln? Die Antwort sind fünf Themen, die sich im Laufe meines 65jährigen Lebens entwickelten.
- Die Auseinandersetzung mit Autorität
- Die Auseinandersetzung mit Interaktions- und Rollentheorien
- Die Auseinandersetzung mit der Kommunikationslehre
- Die Beschäftigung mit dem Enneagramm
- Die Anstöße und Anregungen von den Kirchentagen
1. Autorität
Die Konfrontation mit meinem autoritären Vater, dem vom Nationalsozialismus geprägten Welt- und Menschenbild seiner Generation und auf ihre Amtsautorität pochende Lehrer haben sehr früh meinen (von der Mutter gestützten) Widerstandsgeist geweckt.
Krieg, Niederlage, Flucht und der Zusammenbruch der Wertesysteme hat meine Generation geprägt und herausgefordert. Wir entwickelten Widerstand gegen alle Autoritäten, gegen einseitige Ideologien, gegen überkommene Werte und Normen.
Der Kant’schen Reinen und Praktischen Vernunft verpflichtet, wollten wir Aufklärung, das heißt die Befreiung des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.
„In Frage stellen“, „hinterfragen“, „fragwürdig machen“ wurden zu Leitbegriffen einer Pädagogik, die sich der Demokratie, der Menschenwürde, der Hilfe für die Schwachen verpflichtet fühlte. Der autoritäre Führungsstil sollte in der Schule dem demokratischen Führungsstil weichen, mit dem Ziel, Kinder und Jugendliche an Prozessen zu beteiligen, sie mit in die Verantwortung zu nehmen. Autorität musste und muss ständig neu erworben werden, durch Kompetenz und Achtung. Das galt für mich bis zuletzt: Autoritäten zu hinterfragen, mich selber in Frage zu stellen und stellen zu lassen, den Schülerinnen und Schülern das Recht einzuräumen, mich zu kritisieren, um so Änderungen gemeinsam zu gestalten und zu leben.
2. Die Interaktions- und Rollentheorie
Neben die Philosophie als Instrument zur intellektuellen Durchdringung demokratischer und gesellschaftlicher Phänomene unserer Gesellschaft trat die Soziologie, die Lehre von den Zusammenhängen und Bedingungen der Gesellschaft.
So entstand das Bewusstsein dafür, dass jeder Mensch in mehreren, oftmals divergierenden Rollen lebt. Als Eltern sind wir zugleich Kinder, als Lehrende auch zugleich Lernende. Wir mussten erkennen, dass wir in unterschiedlichen Rollen, unterschiedliche Bewertungen der gleichen Dinge vornahmen, dass wir selber in Rollenkonflikte verstrickt sind. Wir lernten und lehrten, dass Handeln abhängig von Rollen ist.
Daraus entstand das Ziel, die Selbsterkenntnis zu fördern, sich seiner eigenen Rollen bewusst zu werden und damit in der Begegnung mit anderen effektiver zu sein, Interessen besser durchzusetzen, aber auch Konflikte besser lösen zu können.
Für den Deutschunterricht entstanden daraus neue Ansätze für die Interpretation und das Verständnis literarischer Werke.
Für den Unterricht in Religion und Werte und Normen entwickelte sich daraus die Auseinandersetzung mit der Erziehung zu empathischem Verhalten, d.h. die Fähigkeit, sich in die Rolle anderer zu versetzen. Daraus erwuchs eine neue Form des verantwortlichen Umgangs mit den eigenen Ansprüchen und mit Macht und Autorität.
Und es geht um die Gewinnung einer Identitätsbalance, um das Ausbalancieren zwischen dem Anspruch so zu sein, wie jeder andere, d. h., nicht aufzufallen, sich einem allgemeinen Trend anzupassen, und so zu sein wie kein anderer, d.h. Individualist und gegebenenfalls einsam zu sein. Darüber zu reden, war ein erster Schritt zur Meta-Kommunikation. Damit sind wir beim dritten Schwerpunkt:
3. Die Kommunikationslehre
Als 1969 bei Huber der dunkelrote Band „Menschliche Kommunikation“ von Watzlawick, Beavin und Jackson in deutscher Übersetzung erschien, wurde er sehr bald zum Bestseller der Intellektuellen. Plötzlich waren viele zwischenmenschliche Prozesse erklärbar, die vorher im Dunkel geblieben waren. Watzlawick stellte fest, dass es unmöglich sei, nicht zu kommunizieren, dass es eine komplementäre Kommunikation gibt, d.h. dass sich unterschiedliche Kommunikationspartner ergänzend entsprachen und dass es eine symmetrische Kommunikation gibt, eine Kommunikation zwischen gleichwertigen Partnern. Sensationell war auch die Unterscheidung zwischen Inhalts- und Beziehungsaspekten der Kommunikation.
Mit diesem metakommunikativen Ansatz ließen sich Paradoxien auflösen oder zumindest erklären.
Als 1972 Umberto Ecos „Einführung in die Semiotik“ auf deutsch erschien, wurde Kommunikation als System von Zeichen, mit deren Hilfe wir uns verständigen, definiert. Die Semiotik dient dazu, die Vielschichtigkeit von Deutungen an Beispielen der Kultur zu erläutern.
Die Kommunikationslehre und die Semiotik erweiterten unsere Sicht. Wir wurden befähigt, unser unterrichtliches Handeln neu zu reflektieren und zu kommunizieren.
Kommunikationsstörungen konnten erklärt und gelöst werden – vor allem mit Hilfe von Watzlawicks Feststellung, dass sich bestimmte Konflikte nicht innerhalb eines Systems lösen lassen, sondern nur von außen.
Die Kommunikationslehre war eine echte Bereicherung, vor allem für den Unterricht.
Kunsttheorien sind ohne diese Erkenntnisse nicht mehr denkbar. Die Erziehung zum verantwortlichen Umgang mit den neuen Medien, die die fiktionale und die reale Wirklichkeit beliebig mischen, wird mit Hilfe der Erkenntnisse aus der Kommunikations-Theorie möglich.
Eine Erweiterung unserer Betrachtungs- und Deutungsmöglichkeiten, um Welt und Menschen verstehen und erklären zu können, sehe ich auch im vierten Schwerpunkt, im Enneagramm
4. Das Enneagramm
Das Enneagramm ist eine alte Sufiweisheit, die davon ausgeht, dass es neun Grundmuster menschlichen Verhaltens gibt. Es ist ein Modell, das als offenes System Erklärungen und Möglichkeiten zur Selbsterkenntnis anbietet. Das Nosce te ipsum (Das Erkenne dich selbst) ist ein Philosophem des abendländischen Denkens.
Das Enneagramm ist eine Möglichkeit und Anleitung, mit unseren Anlagen bewusst und verantwortlich umzugehen. Es zeigt uns zugleich, dass wir nur einen Blickwinkel von maximal 120 Grad aus uns selbst abdecken. Wir bedürfen also zum Erfassen eines Problems, eines Menschen, eines Sachverhalts immer der Mithilfe anderer Menschen, anderer Muster.
Selbst wenn der Glaube an die Wahrheit und die Tragfähigkeit des Modells fehlte, bliebe ein Wortfeld von mindestens 168 Wörtern zur Beschreibung des menschlichen Wesens und des menschlichen Verhaltens. Das ist für sich schon ein Gewinn und hilft, Menschen, ihre Fähigkeiten und Abhängigkeiten differenzierter und genauer zu sehen. Das Faszinierende am Enneagramm ist jedoch, dass es ein sich erweiterndes, ein offenes System ist, das nicht festlegt, sondern befreit, zur Selbsterkenntnis und zur Erkenntnis anderer Menschen führt.
Die Frage nach angeborenen und anerzogenen Verhaltensweisen und Eigenschaften und Charaktermerkmalen hat die Menschen schon immer beschäftigt und erhält durch das Enneagramm neue Impulse und Antworten: Ändere, was zu ändern ist, akzeptiere, was sich nicht ändern lässt und lerne, das eine vom anderen zu unterscheiden!
5. Kirchentage
Ohne die Verankerung im Glauben kann ich mir mitmenschliches Tun, die liebevolle Zuwendung zum Nächsten nicht vorstellen. Die Kirchentage haben im Laufe der Jahre den Glauben als wandlungsbedürftiges und wandlungsfähiges Phänomen sichtbar, fühlbar und erlebbar gemacht.
Die Gewissheit in der Gemeinschaft, Vertrauen wagen zu dürfen, hat sich als gute Basis meines Lebens erwiesen.
Die Auseinandersetzung mit der Theologie der Befreiung, das Nachforschen nach dem Leben in seiner Fülle, wie es Dorothee Sölle 1983 auf dem Weltkirchentag in Vancouver aufgefächert hat, hat geholfen, die Enge eines festgelegten Kanons von Unterrichtsthemen zu erweitern.
Die Diskussion um die Liebesfähigkeit im Spiegel des christlichen Doppelgebots, die Fragen nach der Wirksamkeit der Bergpredigt als Strategiepapier für verantwortliches politisches und privates Handeln, hat zur lebendigen Auseinandersetzung mit Grundfragen des Glaubens geführt.
Ohne Kirchentage und deren breiten Konsens zu Fragen der Friedensfähigkeit und Konfliktfähigkeit anstelle von Friedfertigkeit hätte ich die Auseinandersetzung in der Schule zum Vietnamkrieg, zum Nato-Doppelbeschluss, zur Friedensbewegung nicht führen können.
Der Kirchentag von unten, der dem offiziellen Kirchentagsmotto „Fürchte dich nicht“ die Verhaltensaufforderung „Fürchte dich“ entgegensetzte, hat auch mich geprägt. Sich zu fürchten vor dem 17-fachen atomaren Overkill, vor dem nuklearen Winter, vor dem verantwortungslosen Umgang mit der Umwelt, vor ungesunder Nahrung und vergiftetem Wasser, kann uns befreien und ermutigen zum Widerstand, zu eigener Verantwortung.
Die Kirchentage haben uns neue Lieder gebracht, neue Umgangsformen erschlossen. Sie waren stärkend für Kirchengemeinden und Schul-gemeinschaften.
Das Motto des kommenden Kirchentages lautet: „Wenn dein Kind dich morgen fragt . . .“. Es macht mich schon jetzt nachdenklich. Welche Fragen werden unsere Kinder uns stellen? Welche Antworten können, welche müssen wir geben? Wie wird es uns mit dem, was wir unseren Nachgeborenen sagen, gehen?
Ich verabschiede mich heute vom Leben in der Schule. Ich bedanke mich für die Herausforderungen der gemeinsamen Jahre und wünsche euch und Ihnen für die Zukunft alles Gute.