Marktzeit in der Stadtkirche St. Marien in Celle am 12. September 2015
I
Nutz den Frühling Deines Lebens!
Leb den Sommer nicht vergebens
Denn alsbald stehst Du im Herbste
Und der Winter naht – dann sterbste!
Mit diesem Gedicht, das mir meine Mutter immer wieder vorsprach, begrüße ich Sie ganz herzlich zur Mittagspause hier in der Stadtkirche St. Marien in Celle. Ich lade Sie ein zu einer halben Stunde Innehalten, Hören und Nach-denken.
Ich stehe deutlich im Herbst meines Lebens. Jahreszeitlich erleben wir zur Zeit den Übergang vom Sommer zum Herbst: den Altweibersommer. Und heute ist die Witterung schon ziemlich herbstlich.
Der Herbst ist die Jahreszeit, die das Jahresende einläutet. Die zum Nachdenken einlädt und uns verführt – oder zwingt, auch an das Lebensende zu denken.
Gestern auf dem Kongress SechzigplusKirche der Landeskirche Hannover kennzeichnete der Landesbischof das Ergebnis seiner Beobachtungen mit dem Satz: „Die Generation der über 60Jährigen tut alles, um dem Tod so fern wie möglich zu sein.“ Und der Leiter des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD stellte heraus: „Die Erwartung und die Nähe zum Tod wird immer weiter nach hinten geschoben“. So scheint sich die Sicht auf den Herbst des Lebens zu ändern.
Ich will meine Bilder vom Herbst, mit denen ich mein Lebensgefühl gestaltend begleitet habe, dem zur Seite stellen. Mehrfach habe ich Brahms Requiem gesungen, auch in unserer Stadtkirche, mit der Mahnung Brahms’: „Herr, lehre doch mich, dass ein Ende mit mir haben muss und mein Leben ein Ziel hat, und ich davon muss.“
Rilke beginnt eines seiner Herbstgedicht mit den Worten:
Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten
Friedrich Hebbel beschreibt für mein Empfinden nur vordergründig die Natur in seinem : H e r b s t b i l d
Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah!
Die Luft ist still, als atmete man kaum,
Und dennoch fallen raschelnd, fern und nah,
Die schönsten Früchte ab von jedem Baum.
O stört sie nicht, die Feier der Natur!
Dies ist die Lese, die sie selber hält,
Denn heute löst sich von den Zweigen nur,
Was vor dem milden Strahl der Sonne fällt.
Er erdichtet eine Einmaligkeit, ein Erstaunen über einen Herbsttag, „wie ich keinen sah.“
Auch Eduard Möricke beschreibt seinen Septembermorgen scheinbar vordergründig
Im Nebel ruhet noch die Welt,
noch träumen Wald und Wiesen:
Wäre da nicht der Doppelpunkt hinter den Schilderungen des „Noch“ und das folgende „Bald“ , das auf das „warme Gold“ verweist, könnte man auf äußerliche Sinneseindrücke tippen, aber die poetischen Bilder durchaus auch als Beschreibung eines Zustandes im unverstellten Himmel einer gemeinten Ewigkeit deuten:
Bald siehst du, wenn der Schleier fällt,
den blauen Himmel unverstellt,
Herbstkräftig die gedämpfte Welt
In warmem Golde fließen.
II
Bei WIKIPEDIA lese ich unter dem Stichwort Altweibersommer: „Das kurzzeitig trockene Wetter erlaubt eine gute Fernsicht, intensiviert den Laubfall und die Laubverfärbung.
Vergleichen Sie mit mir diese Aussage mit den Bildern des Dichters
GEORG TRAKL
Am Abend, wenn die Glocken Frieden läuten,
Folg ich der Vögel wundervollen Flügen,
Die lang geschart, gleich frommen Pilgerzügen,
Entschwinden in den herbstlich klaren Weiten.
Hinwandelnd durch den dämmervollen Garten
Träum ich nach ihren helleren Geschicken
Und fühl der Stunden Weiser kaum mehr rücken.
So folg ich über Wolken ihren Fahrten.
Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern.
Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen.S
Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern,
Indes wie blasser Kinder Todesreigen
Um dunkle Brunnenränder, die verwittern,
Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.
Astern, die letzten Blüten im Herbst, sind Blumen, die mit den Asphodelen gleichzusetzen sind, den Totenblumen der griechischen Mythologie. Die Seelen der Verstorbenen überqueren die Asphodelenwiese die den Acheron begrenzt, den Fluss der mit dem Wasser Styx gefüllt ist, dem Wasser des Vergessens.
Gottfried Benn hat den Astern ein Denkmal gesetzt mit seinem Gedicht:
Astern -, schwälende Tage,
Alte Beschwörung, Bann,
Die Götter halten die Waage
Eine zögernde Stunde an.
Noch einmal die goldenen Herden
Der Himmel, das Licht, der Flor,
Was brütet das alte Werden
Unter den sterbenden Flügeln vor?
Noch einmal das Ersehnte,
Den Rausch, der Rosen Du -,
Der Sommer stand und lehnte
Und sah den Schwalben zu,
Noch einmal ein Vermuten,
wo längst Gewissheit wacht:
Die Schwalben streifen die Fluten
Und trinken Fahrt und Nacht.
Eigentlich ist das an Tiefe nicht zu überbieten. Und dennoch finde ich das angelegt in dem Gedicht, das meine Mutter mir vortrug, das wie ein Kindergedicht klingt und das mich doch durch mein ganzes Leben begleitet hat, bis in meinen Herbst:
Nutz den Frühling Deines Lebens!
Leb den Sommer nicht vergebens
Denn alsbald stehst Du im Herbste
Und der Winter naht – dann sterbste!