Marktzeit in der Stadtkirche St. Marien in Celle am 2. Juli 2016
Über allen Gipfeln ist Ruh
In allen Wipfeln spürest du
kaum einen Hauch;
die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
ruhest du auch.
Mit diesem lyrischen Kleinod des deutschen Dichters Johann Wolfgang von Goethe begrüße ich Sie hier in der Kirche Sankt Marien in Celle zur Marktzeit: zu einer halben Stunde Innehalten, Hören auf die Musik, die uns heute Gabriele Blanz darbietet und Nachdenken über das Thema Ruhe.
Es scheint mir so, als sei Ruhe in Verruf geraten, als müssten wir uns für Ruhe entschuldigen, als sei sie ein Vergehen, eine Sünde.
In meiner Kindheit wurde ich noch mit Lebensregeln erzogen wie: „Sich regen, bringt Segen.“ und „Müßiggang ist aller Laster Anfang.“ So wird der Sonntag, der Ruhetag, der Urlaub, die Ruhezeit zum Eventrausch, zu einer Zeit, in der man sich Ruhe erarbeiten muss. Und viele ältere Menschen scheinen sich verpflichtet zu fühlen, den wohlverdienten Ruhestand am Ende eines kräftezehrenden Arbeitslebens zu einem Unruhestand umgestalten zu müssen. Die Ruheständlerinnen und Ruheständler sehen sich nach einem zweiten Beruf um.
Muße ist in meinem Leben einer der stärksten Leitbegriffe. In meiner Kindheit lag ich an der Weser, sah dem fließenden Wasser zu und lauschte dem leise knisternden Wachsen des Grases im Frühjahr. Später bin ich immer wieder mit dem Sonnenaufgang aufgestanden, um das Erwachen der Natur zu erleben. Und an einem Lagerfeuer zu sitzen, die Flammen und das Verglimmen des Holzes zu erleben, war immer beruhigend für mich.
Ruhe und Muße sind Geschwister. Aber Muße ist nicht Nichtstun. Muße ist der Zustand, in dem Erinnerungen und Träume miteinander verflochten werden. Wer ruht, erinnert sich und streckt sich gleichzeitig nach der Zukunft aus. Es ist, als ob verflossene Zeit und die Zukunft ineinander übergingen.
Ich glaube, dass unsere Seele ihr eigenes Wurzelwerk hat. Sie ist verankert in der Vergangenheit und in der Zukunft, im Himmel und auf der Erde.
In dem Gedicht Mondnacht beschreibt Joseph von Eichendorff Ruhe als den Schwebezustand, aus dem heraus sich die Wirkkraft unserer Seele entfaltet, die zur Quelle wird für unser Ich.
Es war, als hätt der Himmel die Erde still geküsst,
Dass sie im Blütenschimmer von ihm nun träumen müsst.
Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht.
Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus.
Ruhe ist mehr als das Leerwerden, das uns der Buddhismus anbietet. In der Ruhe liegt die Kraft, zu uns selbst zu finden, uns zu erweitern, die Kraft zu entwickeln, sich selbst zu begegnen und das Ich zu leben, das uns befähigt, ein liebevoller und liebesfähiger Mensch zu werden. Um so liebesfähig zu werden, bedarf es der Ruhe, in der ich Gott begegnen kann.
Die Ruhe ist etwas, das jenseits des Räumlichen und des Sichtbaren wirkt. Sie bringt uns in Kontakt mit dem Herzschlag. Sie eröffnet einen Raum und einen Windschutz für die Liebe.
Im 127ten Psalm heißt es:
»Es ist umsonst, dass ihr früh aufsteht und hernach lange sitzet und esset euer Brot mit Sorgen; denn seinen Freunden gibt er es im Schlaf« (Psalm 127,2).
„Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf!“. Das habe ich früher immer mit leichtem Spott gehört. Bis ich gemerkt habe, wie erquickend der Schlaf ist. Ich habe mich zum Nehmenden entwickelt und kann geben, weil ich in der Ruhe getankt habe, weil ich mich erquickt fühle, weil ich in der Ruhe erfahren habe, dass ich angenommen bin.
Zu den tiefen spirituellen Weisheiten – nicht nur der christlichen, sondern auch anderer Religionen – gehört die Einsicht, dass ein Teil dessen, was der Mensch braucht, nur aus der Ruhe heraus zugänglich ist. Man kann es sich nicht nehmen, man kann es nur bekommen.
II
Nun ruhen alle Wälder ,
Vieh, Menschen, Städt und Felder,
es schläft die ganze Welt;
ihr aber meine Sinnen,
auf, auf ihr sollt beginnen
was eurem Schöpfer wohl gefällt.
Dieses Kirchenlied spiegelt unsere Hinwendung zur Ruhe.
Im diesem Zusammenhang könnte man den Sabbat, den Sonntag, die Ruhe ein Sakrament nennen, eine unsichtbare Gnade, aus der heraus sich die Wirkkraft meiner Seele, meines sinnlichen Trachtens entwickelt und sich reich verästeln kann.
Und ich wiederhole meine Überzeugung, dass das, was der Mensch braucht, nur in und aus der Ruhe zugänglich ist. Man kann es sich nicht nehmen, man kann es nur bekommen.
In der christlich-jüdischen Religion ist der Sabbat, der Sonntag die Vollendung der Schöpfung und ein zu heiligender Tag.
Der kuschitischen Stamm der Gallas in Äthiopien kennt eine Göttin der Ruhe – Sambatu. Sie gibt den Menschen den Wochenzyklus wie sie Frauen den monatlichen Zyklus gab. Sie lehrt Frauen, auf ihre körperlichen Zyklen zu achten und sich immer wieder mit der Erdkraft zu verbinden – aus deren Ruhe und Beständigkeit heraus neue Impulse und neue Schöpfungskraft entstehen kann.
Einer meiner Freunde, ein Suchender und gläubiger Mensch, der sich selbst für ungläubig hielt, sagte mehrfach zu mir: „Du hast es gut mit Deinem Jesus“, oder „Du machst es dir ganz schön leicht mit Deinem Jesus“. Ja, ich kann es mir leicht machen, weil ich selbst im Schlaf weiß, dass ich angenommen bin, dass ich dann, wenn ich absichtslos und an allen Effektivitätsbestrebungen vorbei lebe, angenommen und geliebt bin. Aus meiner Glaubensgewissheit heraus leite ich das Recht für mich ab, meine Zeit unproduktiv und unrentabel zu verbringen.
Und immer wieder stellt sich der Segen unerwartet ein.
Und ich lasse mir nicht mehr einreden, dass meine Ruhephasen mich vom eigentlichen Leben abziehen. Ich will nicht gezwungen sein, mir meinen Platz und meinen Wert verdienen zu müssen. Ich glaube, dass mir durch die Ruhe Kraft zuwächst.
Wer nun nicht an die Heiligung des siebten Tages in der Schöpfung glaubt, der kann sich an die Göttin Sambatu hängen. Aus der göttlichen Ruhe kommt alle Kraft. Sie verhilft den Menschen, (wieder) in ihr Zentrum zu gelangen. Müßiggang und „Faulheit“ sind keine Zeitverschwendung, keine verlorene Zeit, sondern viel mehr ein Gewinn.
Am Ende der heutigen Ruhephase hier in der Stadtkirche hören Sie ein Kirchenlied aus unserem Gesangbuch, gespielt auf der Orgel von Gabriele Blanz. Mit dem dazugehörigen Text entlasse ich Sie mit Gottes Segen in ein hoffentlich ruhiges Wochenende.
Sollt ich meinem Gott nicht singen?
Sollt ich ihm nicht dankbar sein?
Denn ich seh in allen Dingen, wie so gut er’s mit mir meint.
Ist doch nichts als lauter Lieben, das sein treues Herze regt,
das ohn Ende hebt und trägt, die in seinem Dienst sich üben.
Alles Ding währt seine Zeit,
Gottes Lieb in Ewigkeit.