Marktzeit in der Stadtkirche St. Marien in Celle am 17. Juni 2017
I
Herzlich willkommen zur Marktzeit in der Kirche Sankt Marien in Celle – zu einer halben Stunde Innehalten und Zuhören und Nachdenken. An der Orgel begleitet uns Ole Magers; ich bin Dietmar Herbst.
Heute ist der 17. Juni – ein geschichtsträchtiges und denkwürdiges Datum, ein Datum, an das wir uns ganz sicher auf sehr unterschiedliche Weise erinnern. Heute, ganz besonders an den verstorbenen Kanzler der Deutschen Einheit Helmut Kohl. Aber ich möchte an den Tag der Deutschen Einheit erinnern.
Vor 64 Jahren – im Juni 1953 – nahm die Unzufriedenheit der Bevölkerung in der DDR zu: es gab zu wenig Lebensmittel, es gab nachts häufig keinen Strom. Als Mitte Juni dann auch noch die Arbeitsnormen erhöht wurden, was die Kürzung der ohnehin knappen Löhne bedeutete, streikten in Ostberlin Bauarbeiter und gingen auf die Straße. Innerhalb weniger Stunden schließen sich Menschen in mehr als 700 anderen Orten diesem Protest an. Aus dem Streik wird ein Volksaufstand mit den zentralen Forderungen: Rücktritt der Regierung und freie Wahlen. Dieser Protest der Arbeiter wird von der Regierung des sogenannten Arbeiter- und Bauernstaates mit Hilfe russischer Panzer brutal niedergeschlagen. Heute vor 64 Jahren
In der Bundesrepublik Deutschland wurde der 17. Juni zum gesetzlichen Feiertag, zum Tag der Deutschen Einheit. An diesem Tag sollte fortan an die Menschen gedacht werden, die für Rechte, für gerechten Lohn und für Freiheit gekämpft haben und dafür brutal niedergeschlagen wurden. Dieser Feiertag sollte uns alle daran erinnern, dass die beiden Staaten – DDR und BRD – trotz allem zusammengehören, und wir im Westen uns eine Vereinigung der beiden Teile wünschen.
Auch wenn der 17. Juni heute kein Feiertag mehr ist und sich nur noch wenige Menschen an die Ereignisse von damals erinnern, so gehört der damalige Aufstand in Ostberlin und der DDR zu den prägendsten und bedeutendsten Ereignissen der jüngeren deutschen Geschichte. Ohne die damaligen Ereignisse lässt sich die Geschichte der vergangenen Jahrzehnte nicht erklären, ist die Fluchtbewegung aus der DDR, die Abstimmung mit den Füßen ebensowenig nachzuvollziehen wie der Bau der Mauer 1961, die systematische Verfolgung und Einschüchterung Andersdenkender, die Poteste gegen das Regime – schließlich die friedliche Revolution von 1989.
Die Vereinigung Deutschland, die sich viele Bürger 1953 erhofften, wurde erst 1989/90 von den Bürgern der DDR erreicht, die sich mutig ihrem eigenen Regime entgegenstemmten und friedlich demonstrierten.
Ich erinnere uns an diese Ereignisse in einem von der Kultur des Erinnerns geprägten Raum: Die Bilderfriese an den Emporen erinnern an geschichtsträchtige Ereignisse unserer christlich-jüdischen Vergangenheit. Die Sonderausstellung erinnert an die Reformation und ihre Folgen. Die Bilder des Altars und des Kreuzes erinnern uns an den Ursprung unseres Glaubens.
Gleichwohl ist der Verlust kollektiven Erinnerns an die Anlässe unserer christlichen Feiertage zu beklagen. Der Reformationstag wird zum verkaufsfördernden Holloweentag umgebogen, der Tag zum Gedenken an Christi Himmelfahrt wird zum dem Alkoholkonsum förderlichen Vatertag umgemünzt und die Bedeutung von Ostern, Pfingsten und Weihnachten droht in Vergessenheit zu geraten.
Auch in der Welt werden Ereignisse umgedeutet und umbenannt, wird Erinnerung daran diffamiert und verboten. Die Benennung des Völkermords an den Armeniern als Genozid führt zu diplomatischen Verwerfungen mit der Türkei. Die Chinesen verbieten das Erinnern an das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Die Bundeswehr entfernt ein Foto eines ehemaligen Bundeskanzlers in Wehrmachtsuniform aus einer Kaserne.
Im Spiegel gegenwärtiger oder zeitnaher Ereignisse verschieben sich unsere Sichtweisen, unsere Bewertungen und Benennungen. Dabei wissen wir und erleben, dass Erinnerungen auch etwas sehr persönliches sind, das sie sich verändern, verblassen oder verklären.
II
Erinnern tut Not. Sich an Nichtgelungenes und Gelungenes zu erinnern führt uns zur Selbstvergewisserung, zur Stärkung. Mein Erinnern ist Brückenschlag zwischen Vergangenheit und Zukunft. In meinem Geburtsjahr 1939 schrieb Brecht sein Gedicht „An die Nachgeborenen“, das für mich ein Ausdruck eines solchen Brückenschlages ist. .
Mich hat dieses Gedicht durch mein bisheriges Leben begleitet und es ermutigt und fordert mich auch am 17. Juni 2017 heraus.
Brecht : An die Nachgeborenen
I
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!
Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn
Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende
Hat die furchtbare Nachricht
Nur noch nicht empfangen.
Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Der dort ruhig über die Straße geht
Ist wohl nicht mehr erreichbar für sein Freunde
Die in Not sind?
Es ist wahr: ich verdiene noch meinen Unterhalt
Aber glaubt mir: das ist ein Zufall. Nichts
Von dem, was ich tue, berechtigt mich dazu, mich sattzuessen.
Zufällig bin ich verschont. (Wenn mein Glück aussetzt, bin ich verloren.)
Man sagt mir: Iß und trink du! Sei froh, daß du hast!
Aber wie kann ich essen und trinken, wenn
Ich dem Hungernden entreiße, was ich esse, und
Mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt?
Und doch esse und trinke ich.
Ich wäre gerne auch weise.
In den alten Büchern steht, was weise ist;
Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit
Ohne Furcht verbringen
Auch ohne Gewalt auskommen
Böses mit Gutem vergelten
Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen
Gilt für weise.
Alles das kann ich nicht:
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!
II
In die Städte kam ich zur Zeit der Unordnung
Als da Hunger herrschte.
Unter die Menschen kam ich zur Zeit des Aufruhrs
Und ich empörte mich mit ihnen.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.
Mein Essen aß ich zwischen den Schlachten
Schlafen legte ich mich unter die Mörder
Der Liebe pflegte ich achtlos
Und die Natur sah ich ohne Geduld.
So verging meine Zeit
Die auf erden mir gegeben war.
Die Straßen führten in den Sumpf zu meiner Zeit.
Die Sprache verrät mich dem Schlächter.
Ich vermochte nur wenig. Aber die herrschenden
Saßen ohne mich sicherer, das hoffte ich.
So verging meine Zeit, die auf erden mir gegeben war.
Die Kräfte waren gering. Das Ziel
Lag in großer Ferne
Es war deutlich sichtbar, wenn auch für mich
Kaum zu erreichen.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.
III
Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut
In der wir untergegangen sind
Gedenkt
Wenn ihr von unserer Schwäche sprecht
Auch der finsteren Zeit
Der ihr entronnen seid.
Gingen wir doch, öfter die Schuhe als die Länder wechselnd
Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt
Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.
Dabei wissen wir doch:
Auch der Haß gegen die Niedrigkeit
Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser. Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.
Ihr aber, wenn es so weit sein wird
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Gedenkt unserer
Mit Nachsicht.