Geist

Marktzeit in der Stadtkirche St. Marien in Celle am 1. Juli 2017

I

Herzlich willkommen zur Marktzeit in der Kirche Sankt Marien in Celle, zu einer halben Stunde Innehalten, Zuhören und Nachdenken. An der Orgel begleitet uns Holger Brandt; ich bin Dietmar Herbst.

Mehrfach ist in dieser Kirche Haydens Oratorium „Die Schöpfung“ aufgeführt worden. Es ist immer wieder ergreifend, wenn der große Chor mit dem Satz beginnt: „Und der Geist Gottes schwebte auf der Fläche der Wasser“ und dann mit großem Forte mündet in: „Und Gott sprach: es werde Licht.“

Am Anfang war der Geist, die Idee, die Vision, der Gedanke – und das Wort. Gott benutzt Sprache, um sein Werk zu schaffen.

Vor kurzem haben wir Christen Pfingsten gefeiert, die Aussendung des Heiligen Geistes. Die Jünger empfangen den Heiligen Geist, überwinden ihre Angst und gehen auf die Straße und reden freimütig von Jesu Ideen, Visionen und Gedanken. Sie verkünden seine Idee von einem friedlichen Leben, von Nächstenliebe, die aus der Liebe Gottes zu den Menschen genährt wird, von Gerechtigkeit, von geistlichem Reichtum.

Der Pfingstbericht in der Apostelgeschichte spricht von einem Sprachwunder. Die Menschen verstehen die Botschaft der vom Geist Beseelten. Es sind keine Tweeds und Blogs, keine Fake-News oder Hasspredigten, keine Pöbeleien gegen Andersgläubige oder Andersdenkende. Vielmehr verbindet dieser „Heilige Geist“ und befreit.

Diese Befreiung durch den Geist habe ich ganz besonders in den Kirchenräumen in der ehemaligen DDR erlebt. Ich habe erlebt, wie mit ihm die Angst vor den totalitären Machthabern verloren ging, wie z. B. in den Friedensdekaden die friedenstiftende Kraft des Geistes erfahren wurde und die Menschen stärkte.

Ich erinnere mich an die verbindende Kraft beim gemeinsamen Singen des Liedes

O komm,  du Geist der Wahrheit, und kehre bei uns ein,
verbreite Licht und Klarheit, verbanne Trug und Schein.

Auch nicht kirchlich geprägte Menschen haben die Kraft dieser Gemeinschaft wahrnehmen können , und wahrgenommen.

Die Unterdrückung der Meinungsfreiheit, die ihren Geist einengte, wollten sie in dieser neuen Gemeinschaft beseitigen. Und so sangen sie voller Inbrunst mit:

Unglaub und Torheit brüsten sich frecher jetzt als je;/
darum musst du uns rüsten mit Waffen aus der Höh. /
Du musst uns Kraft verleihen, Geduld und Glaubenstreu /
und musst uns ganz befreien von aller Menschenscheu.

Die Pastoren und die Gemeinden, die ihre Kirche  für die protestierenden Bürger öffneten, taten dies im protestantischen Geist. Sie wussten um die Kraft des Wortes, um die schöpferische und kritische, aber auch um die versöhnende und verbindende Kraft des Geistes.

Sie glaubten fest an den Geist des FRIEDENS der höher steht als alle menschliche Vernunft – wie wir in jedem Gottesdienst hören.

II

Wie wir die Welt verstehen und welches Menschenbild wir haben, hängt  wesentlich von der Bedeutung ab, die wir dem menschlichen Geist, unserem Verstand, zumessen. Unser Welt- und Menschenbild hängt davon ab, ob und wie wir – im Sinne der Aufklärung – uns unseres Verstandes/Geistes ohne Anleitung anderer bedienen, bedienen können.

In Meyers Konversationslexikon von 1887 finde ich unter dem Stichwort Geist den folgenden Satz:

„Was durch Lebendigkeit, Neuheit des Gedankens eindringliche Kraft, phantasievolle Frische uns überrascht, fesselt, fortreißt, davon sagen wir, das be-geistert uns; kühne Ideen, sinnreiche Kombinationen, witzige Einfälle, treffende Vergleichungen, originelle, ja paradoxe Ansichten, nennen wir geist-reich.“

In der Trias von Körper, Geist und Seele steht der Geist für den Verstand, für die Erkenntnis, für das Finden von Wahrheit und für ethische Entscheidungen. Der Geist ist menschliche Wirkkraft, d. h.,  der Geist befähigt uns zur Gestaltung unserer Welt.

Nun produziert die Welt in unserem digitalen Zeitalter eine immer exaktere Kopie von sich selbst. Die digitalen Datenströme bilden in Echtzeit immer mehr und immer vielfältigere Situationen ab. Die wachsende Zahl von Sensoren an den Oberflächen unserer körperlichen, privaten und beruflichen Existenz wird verbunden mit der zunehmenden Leistungsfähigkeit der künstlichen Intelligenz.

Diese künstliche Intelligenz – also nicht die natürliche Leistung unseres individuellen Geistes – ist mit dreifacher Kompetenz ausgestattet:

Erstens lernt die künstliche Intelligenz mit ihren Programmen in hoher  Geschwindigkeit, Datenkorrelationen zu erfassen und Trends bloßzulegen, die sich der menschlichen Wahrnehmung bis dahin entzogen hatten.

Zweitens kann sie Situationen aller Art interpretieren.

Drittens kann sie in der Folge Empfehlungen formulieren.

Ob wir mit unserem Willen, den ich dem Geist zuordne, in der Lage sind und bleiben, uns diesen Empfehlungen zu entziehen, wird in Zukunft ganz wesentlich über unser Leben, unsere Autonomie entscheiden.

Alle diese Systeme beherrschen das Lernen und perfektionieren sich deshalb ununterbrochen, d.h. das Verhalten eines Systems wird nicht vorab durch sein Programm festgelegt.

Diese „Künstliche Intelligenz“ (KI) soll unsere menschlichen Unzulänglichkeiten ausgleichen und uns gefahrlos durch die „beste“ aller Welten lotsen. Der menschliche Faktor wird dabei neutralisiert und neu .positioniert.

Dank seines Geistes galt der Mensch bisher als einziges mit Urteilskraft begabtes Wesen. Nun stehen wir in der Gefahr, durch eine neue, als überlegen angesehene Wahrheitsinstanz, verdrängt zu werden.

Nicht mehr wir üben mit Hilfe unseres Geistes und Verstandes, unserer Sinne und unseres Wissens Gestaltungsmacht aus, sondern eine künstliche Interpretations- und Entscheidungsgewalt soll für uns in allen Lebensbereichen inclusive im Arbeitsleben entscheiden. So die Idee der Schöpfer. Sie versprechen uns, mit den endlos variierten und erweiterten Kräften der künstlichen Intelligenz alle Mängel unseres Lebens und unseres Alltags zu beheben.

Ich finde, diese digitalen Technologien überschreiten eine Grenze. Sie stellen unsere Existenz und viele unserer Grundprinzipien auf den Kopf. Ich hoffe, wir können den richtigen Widerstand leisten, um unseren Geist zu retten, und uns weiterhin unseres Verstandes ohne Anleitung anderer bedienen, damit wir weiterhin be-geistert und geistreich sein können, wie es im Meyer von 1887 steht:

„Was uns durch Lebendigkeit, Neuheit des Gedankens eindringliche Kraft, phantasievolle Frische überrascht, fesselt, fortreißt, davon sagen wir, das be-geistert uns; kühne Ideen, sinnreiche Kombinationen, witzige Einfälle, treffende Vergleichungen, originelle, ja paradoxe Ansichten, nennen wir geist-reich.“

Mit der Bitte, dass „DER GEIST GOTTES UNSRER SCHWACHHEIT AUFHELFE und uns begleite, wünsche ich uns ein gesegnetes Wochenende.