Marktzeit in der Stadtkirche St. Marien in Celle am 15. Juli 2019
I
Ich begrüße Sie ganz herzlich – heute am Samstag nach Pfingsten – zur Mittagspause zur Marktzeit hier in der Kirche Sankt Marien in Celle: zu einem Augenblick Innehalten und Zuhören und Nachdenken.
Vor 240 Jahren forderte Goethe mit seinem Gedicht Prometheus von Zeus, seinen Himmel zu bedecken und uns die Erde zu lassen.
PROMETHEUS
Bedecke deinen Himmel, Zeus, mit Wolkendunst!
Und übe, Knaben gleich, der Disteln köpft,
an Eichen dich und Bergeshöhn!
Musst mir meine Erde doch lassen stehn,
und meine Hütte, die du nicht gebaut,
Und meinen Herd, um dessen Glut Du mich beneidest.
Ich kenne nichts Ärmers unter der Sonn als euch Götter.
Ihr nähret kümmerlich von Opfersteuern und Gebetshauch eure Majestät
Und darbtet, wären nicht Kinder und Bettler hoffnungsvolle Toren.
Da ich ein Kind war, nicht wusste, wo aus, wo ein,
Kehrte mein verirrtes Aug zur Sonne-,
als wenn drüber wär ein Ohr, zu hören meine Klage,
Ein Herz wie meins, sich des Bedrängten zu erbarmen.
Wer half mir wider der Titanen Übermut ?
Wer rettete vom Tode mich, von Sklaverei?
Hast du’s nicht alles selbst vollendet, heilig glühend Herz ?
Und glühtest, jung und gut,
Betrogen,
Rettungsdank dem Schlafenden da droben?
Ich dich ehren ? Wofür ?
Hast du die Schmerzen gelindert je des Beladenen?
Hast du die Tränen gestillet je des Geängsteten ?
Hat nicht mich zum Manne geschmiedet
die allmächtige Zeit und das ewige Schicksal,
Meine Herrn und deine?
Wähntest du etwa, ich sollte das Leben hassen,
In Wüsten fliehn,
Weil nicht alle Knabenmorgenblütenträume reiften ?
Hier sitz ich, forme Menschen nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, weinen, genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich.
200 Jahre später besingt Reinhard Mey den Himmel so:
Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein.
Alle Ängste, alle Sorgen, sagt man
Blieben darunter verborgen
Und dann würde, was hier groß und wichtig erscheint,
plötzlich nichtig und klein.
Der Himmel über den Wolken wird zum Sehnsuchtsort und verheißt grenzenlose Freiheit, ein Ort, der unseren Blick von den Nichtigkeiten und Kleinheiten der Welt befreit.
II
Die Kosmologen, jene Forscher und Forscherinnen, die sich mit dem Kosmos und dem Universum als Ganzem befassen, gehen davon aus, dass sich das Universum nach dem Urknall innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde um ein Vielfaches aufgebläht hat, entfesselt von einer unbekannten Energie. Diese mysteriöse Abstoßungskraft wird heute »dunkle Energie« genannt. Sie treibt das Universum immer noch auseinander.
Nach derzeitigem Stand der Erkenntnis besteht das Universum zu 6 Prozent aus bekannter Materie gegenüber 27 Prozent aus dunkler Materie und zwei Drittel dunkler Energie.
Das heißt: Das Universum besteht zum größten Teil aus Imaginiertem, aus Vorstellungen.
Kann an die Vorstellung vom Himmel als Ort über den Wolken, der sich ständig ausdehnt auch als Ort grenzenloser Freiheit gelten, wie Reinhard Mey suggerierte?
Vom Himmel aus gesehen werden unsere promethischen Vorstellungen auf jeden Fall neu einzuordnen sein.
Vor einem Jahr erschien das Buch „HOMO DEUS“ des israelischen Philosophen Yuval Noah Harari. Darin beschreibt er den Menschen als gottgleiche Schöpfungskraft, die mit Hilfe der neueren Technologien schöpferisch und zerstörerisch zugleich eine neue Stufe der Evolution beschreitet.
Der Mensch wird – nach dieser Beschreibung – zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde.
Ist damit der Himmel abgeschafft?
Für mich als Christ ist der Himmel die göttliche Wohnung und der Aufenthaltsort der Seligen – im Gegensatz zur Erde, als dem Ort der Endlichkeit und als dem Ort von Schmerz und Sünde.
Wir Christen feiern Ostern die Auferstehung Jesu Christi und damit die versprochene Vergebung unserer Sünden und wir feiern Pfingsten – das Fest nach Himmelfahrt – als den Geburtstag unserer Kirche.
Für Atheisten mögen die damit verbundenen Geschichten unglaubwürdig sein. Gleichwohl sind dies Geschichten, die uns etwas Unverzichtbares erzählen.
Sie sind Geschichten des Glaubens und der Hoffnung auf Erlösung und Befreiung – weitergereicht von Generation zu Generation.
Sie sind Geschichten, die uns daran erinnern, erinnern sollen, dass wir – individuell oder kollektiv – immer nur mit einem utopischen Vorgriff leben können, dass wir auf einen Horizont hin ausgerichtet sein müssen, der das überschreitet, was ist.
So ist der Himmel für mich ein Ort, an dem ich mich verankern kann. Ich brauche den Glauben an das Unglaubliche, an das Trotzdem, das sich in einer trostlosen Gegenwart den Widerständen der herrschenden Ideologien widersetzt. Ohne diesen Himmel ist für mich die Gegenwart kaum auszuhalten.
Wenn die Ostdeutschen 1989 nicht dem Realistischen getrotzt hätten, wenn sie nicht an das Unmögliche geglaubt hätten, wäre die Wende nie möglich gewesen. Wer sich nur an dem ausrichtet, was ist, kann Unfreiheit und Knechtschaft nicht überwinden, kann die Wirklichkeit der Gegenwart nicht überschreiten.
Deshalb halte ich am Himmel als Sehnsuchtsort – als Ort Gottes – fest.
Über uns allen wölbt sich der gleiche Himmel – aber wir haben alle unseren eigenen Horizont.
Gehen Sie gesegnet in das Wochenende auf der Suche nach Ihrem Himmel!