Kanzelrede am 18. Mai 2025 in der Stadtkirche St. Marien in Celle

Herr, gib uns Deinen Frieden, gib uns Deinen Frieden, Herr, gib uns Deinen Frieden, Herr, gib uns Deinen Frieden 

Die Älteren unter uns werden sich noch erinnern an Kirchentage, auf denen wir dieses Lied in Endlosschleife gesungen hanem – als Bitte und in der Hoffnung, dass der kalte Krieg beendet werden könnte und die Welt friedlicher werde. 

Sie werden sich erinnern an die Ostermärsche und Demonstrationen der Friedensbewegung in der Alten Bundesrepublik und an das Donna nobis Pacem in der diesjährigen Osternacht zum Geläut der Friedensglocke.

Was aber ist Frieden und welchen Frieden meinen wir?

Ich bin 1939 geboren. 

Den Krieg erlebte ich in Liegnitz, Xanten, Breslau und auf der Flucht mit meiner Mutter und zwei Geschwistern. Das Kriegsende und den neuen Frieden erlebte ich als Flüchtling in Fürstenberg an der Weser – fremd im eigenen Land.

Ich musste keinen Sprachkurs machen, ich hatte die gleiche Hautfarbe wie meine Altersgenossen, dennoch waren wir im Dorf und in der Schule nicht willkommen, wurden gemieden, beschimpft, geschubst und ausgegrenzt. 

Solange, bis ich – entgegen der mütterlichen Maxime „wir schlagen uns nicht“ – den Anführer unserer Quälgeister verprügelte und den Kampf gewann.

Danach war Frieden.

Ich hatte mit Gewalt der Schikane ein Ende gesetzt und einen Platz für mich erobert – und mein einstiger Gegner und Peiniger wurde mein Freund. 

Damals war ich 7 Jahre alt.

In der Schule besprachen wir später die Fabel von Wilhelm Busch:

Ganz unverhofft an einem Hügel  

sind sich begegnet Fuchs und Igel.

„Halt“, rief der Fuchs, „du Bösewicht! 

Kennst Du des Königs Ordre nicht?

Ist nicht der Friede längst verkündigt, 

und weißt du nicht, dass jeder sündigt,

 der immer noch gerüstet geht?

Im Namen seiner Majestät,

geh her und übergib dein Fell!“ 

Der Igel sprach: „Nur nicht so schnell!

Lass Dir erst deine Zähne brechen, 

dann wollen wir uns weitersprechen.“ 

Und alsogleich macht er sich rund, 

schließt seinen dichten Stachelbund 

und trotzt getrost der ganzen Welt, 

bewaffnet, doch als Friedensheld.

Es gibt also verschiedene Formen von Frieden und unterschiedliche Wege dorthin – Gewalt und bewaffnetes Stillhalten z.B.

„Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus“ ist eine Bitte in jedem Gottesdienst.

Soll das heißen, dass der Friede Gottes der menschlichen Vernunft entgegensteht? 

Oder sie überflüssig macht? Daran will ich nicht glauben. Damit will ich mich nicht zufriedengeben. Ich bin zutiefst überzeugt, dass wir uns unserer Vernunft bedienen müssen – und können, um Frieden zu schaffen. Aber ich weiß auch, dass der Wunsch nach und der Wille zur Macht sich oft gegen die Macht des Glaubens und gegen die Vernunft stellt und durchsetzt.

Nach dem 30-jährigen Krieg, in dem die Hälfte der damaligen Bevölkerung in den betroffenen Ländern umkam, haben die beteiligten Herrscher 5 Jahre um einen verbindlichen Frieden verhandelt und das Ergebnis groß gefeiert. 

Der Frieden hat nicht lange gehalten.

Mehr als hundert Jahre nach dem Westfälischen Friedensschluss hat Immanuel Kant seine vielzitierte Schrift Zum ewigen Frieden verfasst. Er baute auf die menschliche Vernunft, die in der Lage ist und sein sollte, ohne Anleitung anderer verantwortlich zu handeln. 

In seinen Maximen fordert er – ganz der Aufklärung geschuldet – die Autonomie von Staaten anzuerkennen, die Freiheit und Rechte der Bürger zu achten und dem Gemeinwohl verpflichtend zu handeln.

Navid Kermani, u.a. Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, hat in einer seiner Reden Aufklärung so definiert:

„Aufklärung … heißt …die eigene Weltanschauung zu relativieren und im eigenen Handeln und Reden immer in Rechnung zu stellen, dass andere die Welt ganz anders sehen: Ich mag an keinen Gott glauben, aber ich nehme Rücksicht darauf, dass andere es tun; uns fehlen – so Kermani – die Möglichkeiten, letztgültig zu beurteilen, wer im Recht ist. Aufklärung ist nicht nur die Herrschaft der Vernunft, sondern zugleich das Einsehen in deren Begrenztheit.“

Das ist die Herausforderung der Gegenwart: die Begrenztheit der (eigenen) Vernunft zu verstehen und anzuerkennen, die Bereitschaft und Fähigkeit, meine Vorstellung von Welt, von Frieden, von richtig und falsch nicht absolut zu setzen – oder, anders ausgedrückt, Demut zu üben und dem Gegenüber Respekt zu zollen.

Noch anders ausgedrückt, es geht darum zu verstehen, verstehen zu wollen, ohne gleichzeitig oder gar automatisch einverstanden zu sein. 

Mein ehemaliger Chef Rainer Eppelmann hat es als Abrüstungsminister der DDR so formuliert: 

„Ich muss mich jeden Morgen in die Schuhe meines Gegners stellen, um mit ihm erfolgreich verhandeln zu können“.

Er hat dem russischen Präsidenten Gorbatschow eine Friedenskerze überreicht und damit nicht nur seine friedliche Absicht demonstriert, sondern auch seine Bereitschaft, die Opfer der Sowjetunion im 2. Weltkrieg anzuerkennen und nicht nur die Unterdrückung der Nachkriegszeit zu sehen.

So konnte er auch anlässlich der Gedenkfeier und Parade zum 9. Mai 1990 glaubhaft vermitteln, dass er nicht als Entwaffnungsminister – wie der russische Dolmetscher übersetzte – sondern als Abrüstungsminister und mit dem Willen zur Versöhnung gekommen ist. 

Damit hatten die ehemaligen und damaligen Gegner und Feinde nicht gerechnet.

Wir glaubten damals beide an die Möglichkeit friedlicher Lösungen, und wir kämpften dafür, die Einigung Deutschlands zu verbinden mit der Schaffung einer europäischen Sicherheitskonzeption, um den Kalten Krieges dauerhaft zu beenden und einen langfristigen Frieden zu sichern.

Es ist uns nicht gelungen.

Wir müssen uns erinnern – daran, woher wir kommen, was hinter uns liegt, auch an das, was uns beschwert, damit wir Fehler nicht wiederholen, damit wir Verantwortung übernehmen und Frieden – vor allem auch im Inneren gestalten können.

Für meine Eltern war das Kriegsende eine große Niederlage und die nachfolgende Entnazifizierung ein belastender Prozess. Die Weltsicht der Sieger, ihre Ideologie und ihre Kultur war ihnen nicht nur fremd, sie lehnten sie ab.

Erst allmählich wurde auch für sie aus Negermusik Jazz, wurden aus Besatzern Verbündete und Freunde, erst allmählich haben sie die Idee der jungen Demokratie, das dahinter liegende Welt- und Menschenbild verstanden und waren schließlich damit einverstanden. Und erst allmählich konnten sie ihr Selbst-Bewusstsein, ihre Identität mit der neuen Zeit, den neuen Ideen und Anforderungen in Einklang bringen.

Ich habe daraus gelernt, dass wir unsere Vergangenheit – die eigene und die gemeinsame – nicht verdrängen können und nicht verdrängen dürfen. Wir dürfen sie nicht abspalten, damit wir daraus selbst-bewusst, mit uns im Einklang und identisch unsere Schlüsse für die Gegenwart ziehen und verantwortlich handeln können.

Ich habe aber auch immer wieder erfahren, wie schwierig das ist. 

So z.B. als ich als Schüler kommunistischer Umtriebe bezichtigt wurde, weil ich darauf verzichten wollte, die Polen aus dem Haus meiner Eltern in Schlesien zu vertreiben.

1948 unterschrieben 48 Staaten die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Der erste Artikel lautet: 

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.

Im zweiten geht es um das Verbot der Diskriminierung…, nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand..

Diese Deklaration sollte als Grundlage einer allgemeinen Friedensordnung für die Welt dienen.

1963 wurde in Bonn der Deutsche Entwicklungsdienst (DED) unter dem Motto „Lernen und Helfen in Übersee“ gegründet. Anwesend waren Bundeskanzler Adenauer, Bundespräsident Lübke und der amerikanische Präsident Kennedy. 

Wir waren uns damals einig, dass wir erst lernen und dann helfen wollten. Und wir gingen davon aus, dass, wenn es uns nicht gelingt, die sogenannte Dritte Welt von unseren Werten zu überzeugen, würden der Fortschritt und der Lebensstandard unserer ersten Welt keinen Bestand haben, und es würden Flüchtlingsströme den Frieden im Innern und in der Welt gefährden.

Ziemlich bald haben wir in der Vorbereitung unserer Einsätze erkannt, dass unsere westlichen Werte und unser Normensystem nicht nur hilfreich, sondern auch zerstörerisch sein können.

Der chinesische Präsidenten Zhou Enlai hat es 1971 auf den Punkt gebracht, als er den amerikanischen Präsidenten Nixon fragte:

„Wieso meinen Sie, ihre Werte, würden in einer Kultur funktionieren, die Sie nicht verstehen?

Heute müssen wir selbstkritisch zur Kenntnis nehmen, dass der Jahrhunderte lange missionarische Feldzug des Westens in der asiatischen, afrikanischen und südamerikanischen Welt zu vielen Demütigungen, Verwerfungen und Misstrauen geführt hat. 

Die Saat geht heute auf. 

Wir erleben Terror und kriegerische Auseinandersetzungen, endlose Flüchtlingsströme und endloses Leid.  Und Überforderung.

Auch die insgesamt 20 Artikel der Deklaration der Menschenrechte, deren Anwendung den inneren und äußeren Frieden stärken sollten, haben ihr Ziel nicht erreicht. Noch immer sind sie nicht verbindlich und nicht von der gesamten Staatengemeinschaft anerkannt. Noch immer stehen Partikularinteressen, unversöhnliche Weltsichten und konkurrierende Menschenbilder der Verbindlichkeit und der Umsetzung im Wege. 

Es scheint mir aber auch die Bereitschaft, verstehen zu wollen, zu fehlen.

Deshalb hier noch einmal Kermani: 

„Heute muss die Antwort auf den Terror, eine andere, im besten Sinne aufklärerische sein: nicht weniger, sondern mehr Freiheit! Nicht Ausgrenzung, sondern gerade jetzt Gleichheit! Und vor allem: nicht Feindschaft, sondern Brüderlichkeit.“ 

Ursprung und Vollendung des Friedens sind (…)  für menschliches Handeln unverfügbar,  aber keineswegs bedeutungslos. 

Heißt es in einer Denkschrift der EKD von 2007

Das bedeutet: Die Vollendung der Welt in Gerechtigkeit und Frieden sind Kennzeichen des Reiches Gottes, nicht einer politischen Ordnung. 

Woher oder wo finden wir die Ermutigung, die Unterstützung und die Kraft, Gleichheit zu denken und Brüderlichkeit zu leben? Die Ermutigung, die Unterstützung und die Kraft, aus der Erinnerung zu lernen, um vergangene Fehler nicht zu wiederholen, Feindbilder abzubauen und die Fähigkeit zu entwickeln, die Zukunft für alle friedvoll zu gestalten? 

Ich habe sie immer wieder in der Evangelischen Akademie in Loccum erfahren.

Dort bin ich Soldaten begegnet, die verantwortungsbewusst ihre Aufgabe wahrnehmen, die differenziert die daraus entstehenden persönlichen und gesellschaftlichen Konflikte bedenken und gestalten. Die sich als Bürger in Uniform sehen, dem Grundgesetz und dem Frieden verpflichtet. Von ihnen lernte ich, dass, wer den Frieden will, sich mit dem Krieg beschäftigen muss. Das heißt auch, sich in die Schuhe des Gegenübers zu stellen, ihn verstehen zu wollen – auch wenn man mit seinen Positionen nicht einverstanden ist.

Prägend waren für mich auch Arbeitseinsätze in Auschwitz, die das Religionspädagogische Institut durchführte und Begegnungen und Seminare in Bergen Belsen sowie Reisen in den ehemaligen Ostblock. 

In der Auseinandersetzung mit unserer Geschichte und mit vielfältiger Anderheit entstanden Verstehen und Verständigung.

Auch in der Kirche, in der Gemeinschaft der Gläubigen, können wir Ermutigung und Kraft finden. In einer Gemeinschaft, die weiß und glaubt, dass der Friede Gottes höher ist als alle Vernunft. In der ein hoher Militär Mitglied der Synode sein kann. In einer Gemeinschaft, die Veränderung zulässt, die scheinbar gesicherte Positionen immer wieder in Frage stellt und neue tragfähige Antworten sucht. In einer Gemeinschaft, die weiß, dass vor Gott alle Menschen gleich sind, die Vielfalt ermöglicht und lebt, deren Glieder zuhören wollen und können, für die Verstehen wollen und Respekt üben keine leeren Worte sind. In einer Gemeinschaft, die dennoch nicht mit allem einverstanden ist und dies auch deutlich sagt und sich öffentlich positioniert. 

In dieser Gemeinschaft kann sich Friedensfähigkeit entwickeln und kann Frieden entstehen.

Unser Land, unsere demokratische Ordnung ist abhängig von solchen Gemeinschaften. Und es ist abhängig von einer offenen Öffentlichkeit, in der Meinungs- und Willensbildungsprozesse ohne Angst und Sprechverbote stattfinden können, in denen wir, Bürger und Bürgerinnen, Gläubige und Ungläubige, Farbige und Weiße, Alte und Junge verhandeln können, was und wie wir leben wollen. 

Unser Land braucht diese Diskurse und Auseinandersetzungen, braucht diskursive Strukturen, mit denen wir das Handeln der Regierung reflektieren und potenziell auch korrigieren, in dem wir so den inneren Frieden ermöglichen und gestalten können.

Wir leben in schwierigen Zeiten. Dazu gehört auch die traurige Wahrheit, dass Kriege keine politischen Betriebsunfälle sind, sondern immer Ausdruck von Machtstreben, auch von Überheblichkeit – und leider ein grauenvolles historisches Kontinuum. 

Carsten Breuer, Deutschlands oberster General, sagte vor ein paar Tagen : 

„Ich glaube, es war in den 40 Jahren, in denen ich Soldat bin, noch nie so bedrohlich wie jetzt gerade.“ 

Sich dies einzugestehen, ist so bitter wie notwendig.

Wer angesichts dieser Lagebeschreibung – im Innern und im Äußeren – und im Spiegel des Scheiterns der friedenspolitischen Bemühungen von 1990 an einer Lösung im Sinne der Fabel vom Fuchs und Igel festhalten will, muss klären, welches Stachelkleid wir brauchen, aber auch welches wir anzuziehen bereit sind und was wir dafür einsetzen wollen. 

Verteidigung statt Angriff.

Es gibt eine merkwürdige Dialektik zwischen Macht und Ohnmacht.  Oft greifen die Mächtigen zur Stabilisierung ihrer Macht zu Mitteln, die gerade das Gegenteil provozieren, die dem Ohnmächtigen, vor dem sie schließlich angstvoll zu zittern beginnen, Kraft und große Souveränität verleiht. 

Wir erinnern uns an die friedlichen Montagsdemonstrationen, die zum Fall der Mauer führten.

Der Glaube kann unendlich viel leisten und hat viel geleistet.

Gläubige Menschen, religiöse Gruppen und Religionsgemeinschaften können nachhaltig für Frieden, soziale Gerechtigkeit, Gewaltlosigkeit und Nächstenliebe in der Welt eintreten. 

Sie können Grundhaltungen wie Friedensfähigkeit, Machtverzicht und Toleranz propagieren und aktivieren.

Der Philosoph Pinchas Lapide, formuliert fünft Tugenden zur Anbahnung eines friedvollen und friedensfähigen Miteinanders, 

die ich an den Schluss stelle:

1.    Konfliktfähigkeit – ohne Abbruch von Brücken, um gewaltlos Kontroversen zu bewältigen

2.    Dialogbereitschaft – in allen Bereichen der Gesellschaft, von der Religion bis in die Politik

3.    Kompromisswille und Kompromissfähigkeit- mit uns selbst zuerst  -und mit dem Gegner 

4.    Einfühlsamkeit – in Kopf und Herz der Kontrahenten, deren Schmerzgrenze nicht überschritten werden darf.

5.    Geduld – ganz im Sinne jenes Rabbis, der da sagte: : Jede Streitfrage hat, zutiefst gesehen, drei Seiten: deine Seite – meine Seite – und die richtige Seite

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne on Jesus Christus. Amen.

Berichte in der Presse: