Marktzeit in der Stadtkirche St. Marien in Celle am 19. August 2017
I
Herzlich willkommen zur Marktzeit in der Kirche Sankt Marien in Celle, zu einer halben Stunde Innehalten, Zuhören und Nachdenken. Für den musikalischen Teil sorgt heute ein Streicherquartett unter der Leitung von Klaas Endler. Ich bin Dietmar Herbst.
Bei den Sommerlichen Musiktagen in Hitzacker sprach der Programm-Manager der Zeppelin Universität Friedrichshafen, Thorsten Philipp, über „Das Festival als Ort kultureller Nachhaltigkeit.“ Er erörterte an Beispielen aus der Popmusik die sehr komplexe Form der Wahrnehmung von Musik und ihre individuelle, gesellschaftliche und damit nachhaltige Bedeutung: das gemeinsame Hören und Erleben stiftet Gemeinschaft, Zugehörigkeit, Identität; Musik macht Laune und erfreut, tröstet und stärkt, streichelt die Seele. Die Menschen gehen verändert aus einem Konzert. Das gilt für Popmusik wie für klassische Musik.
Seine Erkenntnisse und Überlegungen haben mich sehr angeregt und ich denke, man kann sie gut auf die Marktzeit übertragen:
Dieser wunderbare Kirchenraum – mit Kanzel, Altar, Kruzifix und Taufbecken – ist ein Ort des gemeinsamen Hörens, Singend und Betens. Und so unterscheidet er sich nicht nur von einem Museum, sondern auch von einem profanen Konzertsaal, auch dann, wenn nicht klassische Kirchenmusik gespielt wird. .
Eben haben wir Johann Sebastian Bach gehört. Er hat Ende des siebzehnten Jahrhunderts einen Zyklus von 14 Fugen und vier Kanons geschaffen, in dem er die kontrapunktische Funktion verdeutlichte. Dazu hat er ein eigenes Notensystem erschaffen. Dass dieses Werk heute hier von einem Streichquartett gespielt wurde, ist eine kleine Besonderheit. Meist wird das Werk auf Tasteninstrumenten (Orgel, Cembalo, Klavier) gespielt. So ist das heutige Klangerlebnis nicht nur ein Beispiel für Besonderheit, sondern auch für Nachhaltigkeit – nämlich die Aneignung und die Aktualisierung von vor langer Zeit notierter Noten, die die Kunst und die Botschaft der Komposition in erlebbarer Form vermittelt.
Im Vorwort des Erstdrucks der Kunst der Fuge, der erst nach dem Tod Bachs erschien, schreibt der Musikwissenschaftler Diedrich Wilhelm Marpurg, „dass das Werk zwar aufs Trefflichste die Regeln der Fuge vermittle und es jedem angehenden Komponisten geraten sei, sich mit Fugen und Kontrapunkten vertraut zu machen; andererseits aber die Fuge heutzutage eine „Geburt des aberwitzigen Altertums“ sei, die aus der Kammermusik ganz ihren Abschied genommen habe, und der Kontrapunkt „den zärtlichen Ohren unserer itzigen Zeit barbarisch klinget“.
Wie sehr und wie nachhaltig sich Hörerlebnisse verändern! Ich vermute, sie haben die Musik ebenso wenig barbarisch empfunden wie ich.
140 Jahre nach Bachs Komposition schrieb der junge Debussy sein einziges Streichquartett, aus dem wir den dritten Satz, das Andantino, hörten. In der Partitur wird vermerkt: mit süßem Ausdruck.
Debussy lehnte sich gegen die klassisch-romantische Tradition auf und suchte in Harmonik, Klangfarbe und Rhythmik Alternativen.
Anlässlich der Weltausstellung 1889 in Paris hörte und entdeckte er russische, javanische und arabische Musik. Er übernahm die fremdländischen Klänge in seinen Kompositionen und erweiterte damit die Hörgewohnheiten seiner Zeit. Mit den fremdartigen und sphärischen Klangbildern hat er die Musik in seiner Zeit revolutioniert und wurde so zum Stimmungskomponisten und zu einem der wichtigsten Vertreter des Impressionismus in der Musik – vergleichbar Claude Monet und Paul Gauguin in der Malerei.
Heute sind uns seine leichten, schwebenden und sphärischen Klangbilder vertraut.
Freuen Sie sich jetzt auf den ersten Satz von Haydns Streichquartett, dem Beginn eines Divertimentos, eines Vergnügungsstückes.
In Nomine Domini – im Namen des Herrn – beginnt der fromme Joseph Haydn 1772 die Niederschrift seiner Streichquartette.
Nachhaltigkeit pur, dies nun heute in der Stadtkirche Sankt Marien in Celle erklingen zu lassen und hören zu können.
II
Musik bereichert und erweitert unser Erleben und unser Leben, erinnert uns an unsere Wurzeln uns schenkt uns Flügel, streichelt unsere Seelen, ermuntert unseren Geist, spielt mit all unseren Sinnen. Auch das ist Nachhaltigkeit: Musik als gesellschaftliche Prägekraft.
Dass wir heute diese Musik hier hören können, liegt auch daran, dass über Generationen Menschen Noten mit der Hand kopiert haben, dass Musikwissenschaftlerinnen uns Musikwissenschaftler in Archiven nach verborgenen Schätzen gesucht, sie erforscht, erarbeitet und damit zugänglich gemacht haben, dass Verlage sie veröffentlicht haben und Instrumentenbauer getüftelt haben, mit welchen Instrumenten diese Notationen am besten umzusetzen wären, damit das, was sich der Komponist oder die Komponistin gedacht und aufgeschrieben hat, zum Klingen kommt.
Um Musik hören und genießen zu können, sind Konzertsäle gebaut, sind Orchester gegründet, Musikerinnen, Musiker und Dirigenten ausgebildet worden.
Die vier Männer, die wir heute hier hören, haben von Kindheit an geübt, ihre Instrumente zu bespielen, haben die Fähigkeit erlernt, Noten auf ihren Instrumenten in Schwingungen umzusetzen, damit wir sie hören können. Spielfreude und Fleiß haben sie zusammengebracht. Sie haben das heutige Programm zusammengestellt, ganz offensichtlich sich und uns zur Freude, zur Stärkung, zur Bereicherung. (Dafür ihnen einen herzlichen Dank).
Und wir? Wir kommen an einem Markttag in der Celler Stadtkirche, zusammen, unterbrechen unseren Alltag und lauschen den Klängen von Kompositionen, die zwischen 1750 und 1918 aufgeschrieben wurden, folgen unseren Gedanken und Gefühlen, die sie auslösen und gehen verändert und gestärkt in das Wochenende.
So ganz anders, als Heinz Erhard in seinem Gedicht Der Geiger behauptet hat, nämlich
Mit den Haaren von dem Pferde
Streicht er – weit entrückt der Erde –
Über straff gespannte Därme.
Und der Lauscher dieser Handlung
Denkt – infolge innrer Wandlung –
An die Pfoten grauer Katzen.
Auch ein Geiger kann gut kratzen.
Wir hören zum Abschluss den zweiten Satz aus Elgars romantischen Quartett op. 83, der mit PIACEVOLE – erfreulich, angenehm – überschrieben ist.