Kanzelrede am 18. Mai 2025 in der Stadtkirche St. Marien in Celle

Herr, gib uns Deinen Frieden, gib uns Deinen Frieden, Herr, gib uns Deinen Frieden, Herr, gib uns Deinen Frieden 

Die Älteren unter uns werden sich noch erinnern an Kirchentage, auf denen wir dieses Lied in Endlosschleife gesungen hanem – als Bitte und in der Hoffnung, dass der kalte Krieg beendet werden könnte und die Welt friedlicher werde. 

Sie werden sich erinnern an die Ostermärsche und Demonstrationen der Friedensbewegung in der Alten Bundesrepublik und an das Donna nobis Pacem in der diesjährigen Osternacht zum Geläut der Friedensglocke.

Was aber ist Frieden und welchen Frieden meinen wir?

Ich bin 1939 geboren. 

Den Krieg erlebte ich in Liegnitz, Xanten, Breslau und auf der Flucht mit meiner Mutter und zwei Geschwistern. Das Kriegsende und den neuen Frieden erlebte ich als Flüchtling in Fürstenberg an der Weser – fremd im eigenen Land.

Ich musste keinen Sprachkurs machen, ich hatte die gleiche Hautfarbe wie meine Altersgenossen, dennoch waren wir im Dorf und in der Schule nicht willkommen, wurden gemieden, beschimpft, geschubst und ausgegrenzt. 

Solange, bis ich – entgegen der mütterlichen Maxime „wir schlagen uns nicht“ – den Anführer unserer Quälgeister verprügelte und den Kampf gewann.

Danach war Frieden.

Ich hatte mit Gewalt der Schikane ein Ende gesetzt und einen Platz für mich erobert – und mein einstiger Gegner und Peiniger wurde mein Freund. 

Damals war ich 7 Jahre alt.

In der Schule besprachen wir später die Fabel von Wilhelm Busch:

Ganz unverhofft an einem Hügel  

sind sich begegnet Fuchs und Igel.

„Halt“, rief der Fuchs, „du Bösewicht! 

Kennst Du des Königs Ordre nicht?

Ist nicht der Friede längst verkündigt, 

und weißt du nicht, dass jeder sündigt,

 der immer noch gerüstet geht?

Im Namen seiner Majestät,

geh her und übergib dein Fell!“ 

Der Igel sprach: „Nur nicht so schnell!

Lass Dir erst deine Zähne brechen, 

dann wollen wir uns weitersprechen.“ 

Und alsogleich macht er sich rund, 

schließt seinen dichten Stachelbund 

und trotzt getrost der ganzen Welt, 

bewaffnet, doch als Friedensheld.

Es gibt also verschiedene Formen von Frieden und unterschiedliche Wege dorthin – Gewalt und bewaffnetes Stillhalten z.B.

„Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus“ ist eine Bitte in jedem Gottesdienst.

Soll das heißen, dass der Friede Gottes der menschlichen Vernunft entgegensteht? 

Oder sie überflüssig macht? Daran will ich nicht glauben. Damit will ich mich nicht zufriedengeben. Ich bin zutiefst überzeugt, dass wir uns unserer Vernunft bedienen müssen – und können, um Frieden zu schaffen. Aber ich weiß auch, dass der Wunsch nach und der Wille zur Macht sich oft gegen die Macht des Glaubens und gegen die Vernunft stellt und durchsetzt.

Nach dem 30-jährigen Krieg, in dem die Hälfte der damaligen Bevölkerung in den betroffenen Ländern umkam, haben die beteiligten Herrscher 5 Jahre um einen verbindlichen Frieden verhandelt und das Ergebnis groß gefeiert. 

Der Frieden hat nicht lange gehalten.

Mehr als hundert Jahre nach dem Westfälischen Friedensschluss hat Immanuel Kant seine vielzitierte Schrift Zum ewigen Frieden verfasst. Er baute auf die menschliche Vernunft, die in der Lage ist und sein sollte, ohne Anleitung anderer verantwortlich zu handeln. 

In seinen Maximen fordert er – ganz der Aufklärung geschuldet – die Autonomie von Staaten anzuerkennen, die Freiheit und Rechte der Bürger zu achten und dem Gemeinwohl verpflichtend zu handeln.

Navid Kermani, u.a. Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, hat in einer seiner Reden Aufklärung so definiert:

„Aufklärung … heißt …die eigene Weltanschauung zu relativieren und im eigenen Handeln und Reden immer in Rechnung zu stellen, dass andere die Welt ganz anders sehen: Ich mag an keinen Gott glauben, aber ich nehme Rücksicht darauf, dass andere es tun; uns fehlen – so Kermani – die Möglichkeiten, letztgültig zu beurteilen, wer im Recht ist. Aufklärung ist nicht nur die Herrschaft der Vernunft, sondern zugleich das Einsehen in deren Begrenztheit.“

Das ist die Herausforderung der Gegenwart: die Begrenztheit der (eigenen) Vernunft zu verstehen und anzuerkennen, die Bereitschaft und Fähigkeit, meine Vorstellung von Welt, von Frieden, von richtig und falsch nicht absolut zu setzen – oder, anders ausgedrückt, Demut zu üben und dem Gegenüber Respekt zu zollen.

Noch anders ausgedrückt, es geht darum zu verstehen, verstehen zu wollen, ohne gleichzeitig oder gar automatisch einverstanden zu sein. 

Mein ehemaliger Chef Rainer Eppelmann hat es als Abrüstungsminister der DDR so formuliert: 

„Ich muss mich jeden Morgen in die Schuhe meines Gegners stellen, um mit ihm erfolgreich verhandeln zu können“.

Er hat dem russischen Präsidenten Gorbatschow eine Friedenskerze überreicht und damit nicht nur seine friedliche Absicht demonstriert, sondern auch seine Bereitschaft, die Opfer der Sowjetunion im 2. Weltkrieg anzuerkennen und nicht nur die Unterdrückung der Nachkriegszeit zu sehen.

So konnte er auch anlässlich der Gedenkfeier und Parade zum 9. Mai 1990 glaubhaft vermitteln, dass er nicht als Entwaffnungsminister – wie der russische Dolmetscher übersetzte – sondern als Abrüstungsminister und mit dem Willen zur Versöhnung gekommen ist. 

Damit hatten die ehemaligen und damaligen Gegner und Feinde nicht gerechnet.

Wir glaubten damals beide an die Möglichkeit friedlicher Lösungen, und wir kämpften dafür, die Einigung Deutschlands zu verbinden mit der Schaffung einer europäischen Sicherheitskonzeption, um den Kalten Krieges dauerhaft zu beenden und einen langfristigen Frieden zu sichern.

Es ist uns nicht gelungen.

Wir müssen uns erinnern – daran, woher wir kommen, was hinter uns liegt, auch an das, was uns beschwert, damit wir Fehler nicht wiederholen, damit wir Verantwortung übernehmen und Frieden – vor allem auch im Inneren gestalten können.

Für meine Eltern war das Kriegsende eine große Niederlage und die nachfolgende Entnazifizierung ein belastender Prozess. Die Weltsicht der Sieger, ihre Ideologie und ihre Kultur war ihnen nicht nur fremd, sie lehnten sie ab.

Erst allmählich wurde auch für sie aus Negermusik Jazz, wurden aus Besatzern Verbündete und Freunde, erst allmählich haben sie die Idee der jungen Demokratie, das dahinter liegende Welt- und Menschenbild verstanden und waren schließlich damit einverstanden. Und erst allmählich konnten sie ihr Selbst-Bewusstsein, ihre Identität mit der neuen Zeit, den neuen Ideen und Anforderungen in Einklang bringen.

Ich habe daraus gelernt, dass wir unsere Vergangenheit – die eigene und die gemeinsame – nicht verdrängen können und nicht verdrängen dürfen. Wir dürfen sie nicht abspalten, damit wir daraus selbst-bewusst, mit uns im Einklang und identisch unsere Schlüsse für die Gegenwart ziehen und verantwortlich handeln können.

Ich habe aber auch immer wieder erfahren, wie schwierig das ist. 

So z.B. als ich als Schüler kommunistischer Umtriebe bezichtigt wurde, weil ich darauf verzichten wollte, die Polen aus dem Haus meiner Eltern in Schlesien zu vertreiben.

1948 unterschrieben 48 Staaten die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Der erste Artikel lautet: 

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.

Im zweiten geht es um das Verbot der Diskriminierung…, nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand..

Diese Deklaration sollte als Grundlage einer allgemeinen Friedensordnung für die Welt dienen.

1963 wurde in Bonn der Deutsche Entwicklungsdienst (DED) unter dem Motto „Lernen und Helfen in Übersee“ gegründet. Anwesend waren Bundeskanzler Adenauer, Bundespräsident Lübke und der amerikanische Präsident Kennedy. 

Wir waren uns damals einig, dass wir erst lernen und dann helfen wollten. Und wir gingen davon aus, dass, wenn es uns nicht gelingt, die sogenannte Dritte Welt von unseren Werten zu überzeugen, würden der Fortschritt und der Lebensstandard unserer ersten Welt keinen Bestand haben, und es würden Flüchtlingsströme den Frieden im Innern und in der Welt gefährden.

Ziemlich bald haben wir in der Vorbereitung unserer Einsätze erkannt, dass unsere westlichen Werte und unser Normensystem nicht nur hilfreich, sondern auch zerstörerisch sein können.

Der chinesische Präsidenten Zhou Enlai hat es 1971 auf den Punkt gebracht, als er den amerikanischen Präsidenten Nixon fragte:

„Wieso meinen Sie, ihre Werte, würden in einer Kultur funktionieren, die Sie nicht verstehen?

Heute müssen wir selbstkritisch zur Kenntnis nehmen, dass der Jahrhunderte lange missionarische Feldzug des Westens in der asiatischen, afrikanischen und südamerikanischen Welt zu vielen Demütigungen, Verwerfungen und Misstrauen geführt hat. 

Die Saat geht heute auf. 

Wir erleben Terror und kriegerische Auseinandersetzungen, endlose Flüchtlingsströme und endloses Leid.  Und Überforderung.

Auch die insgesamt 20 Artikel der Deklaration der Menschenrechte, deren Anwendung den inneren und äußeren Frieden stärken sollten, haben ihr Ziel nicht erreicht. Noch immer sind sie nicht verbindlich und nicht von der gesamten Staatengemeinschaft anerkannt. Noch immer stehen Partikularinteressen, unversöhnliche Weltsichten und konkurrierende Menschenbilder der Verbindlichkeit und der Umsetzung im Wege. 

Es scheint mir aber auch die Bereitschaft, verstehen zu wollen, zu fehlen.

Deshalb hier noch einmal Kermani: 

„Heute muss die Antwort auf den Terror, eine andere, im besten Sinne aufklärerische sein: nicht weniger, sondern mehr Freiheit! Nicht Ausgrenzung, sondern gerade jetzt Gleichheit! Und vor allem: nicht Feindschaft, sondern Brüderlichkeit.“ 

Ursprung und Vollendung des Friedens sind (…)  für menschliches Handeln unverfügbar,  aber keineswegs bedeutungslos. 

Heißt es in einer Denkschrift der EKD von 2007

Das bedeutet: Die Vollendung der Welt in Gerechtigkeit und Frieden sind Kennzeichen des Reiches Gottes, nicht einer politischen Ordnung. 

Woher oder wo finden wir die Ermutigung, die Unterstützung und die Kraft, Gleichheit zu denken und Brüderlichkeit zu leben? Die Ermutigung, die Unterstützung und die Kraft, aus der Erinnerung zu lernen, um vergangene Fehler nicht zu wiederholen, Feindbilder abzubauen und die Fähigkeit zu entwickeln, die Zukunft für alle friedvoll zu gestalten? 

Ich habe sie immer wieder in der Evangelischen Akademie in Loccum erfahren.

Dort bin ich Soldaten begegnet, die verantwortungsbewusst ihre Aufgabe wahrnehmen, die differenziert die daraus entstehenden persönlichen und gesellschaftlichen Konflikte bedenken und gestalten. Die sich als Bürger in Uniform sehen, dem Grundgesetz und dem Frieden verpflichtet. Von ihnen lernte ich, dass, wer den Frieden will, sich mit dem Krieg beschäftigen muss. Das heißt auch, sich in die Schuhe des Gegenübers zu stellen, ihn verstehen zu wollen – auch wenn man mit seinen Positionen nicht einverstanden ist.

Prägend waren für mich auch Arbeitseinsätze in Auschwitz, die das Religionspädagogische Institut durchführte und Begegnungen und Seminare in Bergen Belsen sowie Reisen in den ehemaligen Ostblock. 

In der Auseinandersetzung mit unserer Geschichte und mit vielfältiger Anderheit entstanden Verstehen und Verständigung.

Auch in der Kirche, in der Gemeinschaft der Gläubigen, können wir Ermutigung und Kraft finden. In einer Gemeinschaft, die weiß und glaubt, dass der Friede Gottes höher ist als alle Vernunft. In der ein hoher Militär Mitglied der Synode sein kann. In einer Gemeinschaft, die Veränderung zulässt, die scheinbar gesicherte Positionen immer wieder in Frage stellt und neue tragfähige Antworten sucht. In einer Gemeinschaft, die weiß, dass vor Gott alle Menschen gleich sind, die Vielfalt ermöglicht und lebt, deren Glieder zuhören wollen und können, für die Verstehen wollen und Respekt üben keine leeren Worte sind. In einer Gemeinschaft, die dennoch nicht mit allem einverstanden ist und dies auch deutlich sagt und sich öffentlich positioniert. 

In dieser Gemeinschaft kann sich Friedensfähigkeit entwickeln und kann Frieden entstehen.

Unser Land, unsere demokratische Ordnung ist abhängig von solchen Gemeinschaften. Und es ist abhängig von einer offenen Öffentlichkeit, in der Meinungs- und Willensbildungsprozesse ohne Angst und Sprechverbote stattfinden können, in denen wir, Bürger und Bürgerinnen, Gläubige und Ungläubige, Farbige und Weiße, Alte und Junge verhandeln können, was und wie wir leben wollen. 

Unser Land braucht diese Diskurse und Auseinandersetzungen, braucht diskursive Strukturen, mit denen wir das Handeln der Regierung reflektieren und potenziell auch korrigieren, in dem wir so den inneren Frieden ermöglichen und gestalten können.

Wir leben in schwierigen Zeiten. Dazu gehört auch die traurige Wahrheit, dass Kriege keine politischen Betriebsunfälle sind, sondern immer Ausdruck von Machtstreben, auch von Überheblichkeit – und leider ein grauenvolles historisches Kontinuum. 

Carsten Breuer, Deutschlands oberster General, sagte vor ein paar Tagen : 

„Ich glaube, es war in den 40 Jahren, in denen ich Soldat bin, noch nie so bedrohlich wie jetzt gerade.“ 

Sich dies einzugestehen, ist so bitter wie notwendig.

Wer angesichts dieser Lagebeschreibung – im Innern und im Äußeren – und im Spiegel des Scheiterns der friedenspolitischen Bemühungen von 1990 an einer Lösung im Sinne der Fabel vom Fuchs und Igel festhalten will, muss klären, welches Stachelkleid wir brauchen, aber auch welches wir anzuziehen bereit sind und was wir dafür einsetzen wollen. 

Verteidigung statt Angriff.

Es gibt eine merkwürdige Dialektik zwischen Macht und Ohnmacht.  Oft greifen die Mächtigen zur Stabilisierung ihrer Macht zu Mitteln, die gerade das Gegenteil provozieren, die dem Ohnmächtigen, vor dem sie schließlich angstvoll zu zittern beginnen, Kraft und große Souveränität verleiht. 

Wir erinnern uns an die friedlichen Montagsdemonstrationen, die zum Fall der Mauer führten.

Der Glaube kann unendlich viel leisten und hat viel geleistet.

Gläubige Menschen, religiöse Gruppen und Religionsgemeinschaften können nachhaltig für Frieden, soziale Gerechtigkeit, Gewaltlosigkeit und Nächstenliebe in der Welt eintreten. 

Sie können Grundhaltungen wie Friedensfähigkeit, Machtverzicht und Toleranz propagieren und aktivieren.

Der Philosoph Pinchas Lapide, formuliert fünft Tugenden zur Anbahnung eines friedvollen und friedensfähigen Miteinanders, 

die ich an den Schluss stelle:

1.    Konfliktfähigkeit – ohne Abbruch von Brücken, um gewaltlos Kontroversen zu bewältigen

2.    Dialogbereitschaft – in allen Bereichen der Gesellschaft, von der Religion bis in die Politik

3.    Kompromisswille und Kompromissfähigkeit- mit uns selbst zuerst  -und mit dem Gegner 

4.    Einfühlsamkeit – in Kopf und Herz der Kontrahenten, deren Schmerzgrenze nicht überschritten werden darf.

5.    Geduld – ganz im Sinne jenes Rabbis, der da sagte: : Jede Streitfrage hat, zutiefst gesehen, drei Seiten: deine Seite – meine Seite – und die richtige Seite

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne on Jesus Christus. Amen.

Berichte in der Presse:

Frieden

Marktzeit in der Stadtkirche St. Marien in Celle am 7. November 2019

Herzlich willkommen zur Marktzeit in der Kirche Sankt Marien in Celle – zu einer halben Stunde Innehalten und Zuhören und Nachdenken.

I

Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unseren Zeiten
Es ist doch ja kein andrer nicht, der für uns könnte streiten,
denn Du, unser Gott, alleine.

Mit diesem Gebet für den Frieden lade ich Sie ein, mit mir einen Augenblick – zu unserer Zeit – über den Frieden nachzudenken.

Martin Luther hatte in seiner Schrift „Vom Kriege wider die Türken“ die moralisch religiöse Erneuerung über die militärische Abwehr gestellt. Auf dem Reichstag zu Speyer im Frühjahr 1529 wurde ihm deshalb unterstellt, dass er mit diesem Vorrang der Glaubensfrage vor dem Militär den Reichsfrieden gefährde.

Seit dieser Auseinandersetzung stehen Protestantismus und Weltverantwortung im Mittelpunkt unseres Glaubens.

Die Verantwortung für die Welt und für den Nächsten bilden die Grundlage des Konziliaren Prozesses zu Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, mit dem Ergebnis, dass wir mit dieser protestantischen Friedensethik einen Beitrag zur Friedensfähigkeit von Gesellschaften leisten und wir für den Frieden streiten.

Die „protestantische Ethik“ wird getragen von der tiefen Überzeugung, dass unser Glauben und unsere Gotteserkenntnis und alle daraus entwickelten theologischen und ethischen Entwürfe fragmentarisch, vorläufig, hinterfragbar und bestreitbar sind.

Das heißt: Unsere Überzeugungen müssen sich immer auch den Protest, den Widerspruch, gefallen lassen.

Friedensfähigkeit zu entwickeln und zu steigern, heißt, Verantwortung vor Gott und den Menschen zu übernehmen, denn die Würde des Menschen ist nichts Abstraktes. Sie gründet auf den christlichen Zeugnissen von der liebenden Beziehung Gottes zu uns Menschen.

Beim Apostel Paulus heißt es im Galaterbrief:

„Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“

Wenn Gott mit seinem gütigen und liebenden Blick allen Menschen seine Ebenbildlichkeit zueignet, dann hat jegliche Identität – sei sie kulturell, geschichtlich oder geographisch begründet – nur ein relatives und kein absolutes Recht.

Das heißt: die soziale, kulturelle und religiöse Bindung wird nicht aufgehoben, sondern in einen übergeordneten Bezugsrahmen gesetzt.

Die Protestanten sprechen deshalb von der „versöhnten Verschiedenheit“.  Mir scheint dieses Begriffspaar nicht nur für das Zusammenleben der Kirchen tragfähig und produktiv zu sein. Es ist auch eine Perspektive für den politischen Prozess für Frieden und Integration auf der Grundlage der Menschenrechte, und das nicht nur in Europa, sondern auch der globalen Welt.

„Versöhnte Verschiedenheit“ verweist auf eine produktive Spannung, in der  Identität und Unterschiedlichkeit keine Gegensätze sind, sondern im Gegenteil: Identität und Differenz befruchten einander.

Lange haben wir den Prozess der Emanzipation zu einseitig als Lösung aus Bindungen und Konventionen begriffen. Das war im Wandel der Geschichte auch nötig. Gegenwärtig aber muss es darum gehen, Menschen, die sich ihrer Freiheit bewusst sind, dafür zu gewinnen, dass sie Bindungen eingehen und darin den Sinn ihrer Freiheit erkennen, dass für sie nicht mehr die Freiheit von etwas im Vordergrund steht, sondern die Freiheit für etwas.

II

Vor dreißig Jahren endete der sogenannte Kalte Krieg, der auf die Konfrontation zweier militärisch hochgerüsteter Blöcke zurückzuführen war.

Vor dreißig Jahren hatten vertrauensbildende Maßnahmen dazu geführt, dass sich die Blöcke auflösten. Es waren Christen, die angstfrei eine friedliche Revolution in Europa ermöglichten. Ein protestantischer Pfarrer konnte Verteidigungsminister und Abrüstungsminister in einem vormals kommunistisch regierten Teil Deutschlands werden. Das war ein ermutigendes Zeichen für die Friedensbewegungen in Ost und West.

Nicht mehr Friedfertigkeit wie im Kaiserreich war das Leitmotiv, sondern Friedensfähigkeit.

Im Herbst 2007 verabschiedet der Rat der Evangelischen Kirchen Deutschlands (EKD) eine Denkschrift mit dem Titel „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen.“

Im Zentrum der Denkschrift steht der Begriff des „gerechten Friedens“. Er ist Leitbegriff und Zielperspektive der christlichen Friedensethik. Vom gerechten Frieden zu sprechen, bedeutet eine deutliche Absage an die Lehre vom gerechten Krieg. In der Denkschrift heißt es: „Es kann für unsere Kirche kein Zurück zu der „Lehre vom gerechten Krieg“ geben. Wir glauben nicht mehr, dass der Krieg sich rechtfertigen lässt.“

Die Erfahrung vor dreißig Jahren hatte gezeigt, dass beide Seiten des Eisernen Vorhangs einen möglichen Krieg rechtfertigten, weil sie sich auf eine naturrechtlich begründete Denkfigur vom gerechten Krieg bezogen.

Von dieser Denkfigur Abschied zu nehmen, bedeutete freilich nicht, die Begründung für einen Krieg für völlig überholt zu halten. Die Verfasser der Denkschrift hoben vielmehr hervor, dass man sich nach den Regeln des Rechts unter Umständen an kriegerischer Gewaltanwendung beteiligen darf. Das ist aber etwas anderes, als den Krieg zu rechtfertigen.

Die klare Absage an den gerechten Krieg verneint also nicht grundsätzlich den Einsatz militärischer Gewalt zur Erhaltung des Rechts. Sie fordert aber die immerwährende Diskussion darüber, wo der Gewalt Grenzen zu setzen sind und wann diese Gewalt nicht mehr der Sicherung des Rechts dient.

An die Stelle der Idee des gerechten Krieges tritt also die Ethik der rechterhaltenden Gewalt.

Schon der Titel der Denkschrift zeigt die doppelte Perspektive. „Aus Gottes Frieden leben“ verweist auf den unverfügbaren, transzendenten Grund des friedlichen Handelns.

„Für gerechten Frieden sorgen“ nennt die innerweltliche, immanente Aufgabe und Herausforderung beim Namen.

Diese doppelte Perspektive bedeutet: Weil Christen „aus Gottes Frieden leben“, sorgen sie für den Frieden in der Welt.

Frieden ist keine Selbstverständlichkeit. Wo Menschen ihn nicht fördern und bewahren – eben für ihn sorgen – stellt er sich nicht von selber ein. Er muss gestiftet werden. Er ist eine immerwährende Aufgabe, für die wir Verantwortung tragen.

Im Gebet für den Frieden („Verleih uns Frieden gnädiglich“) bringen Christenmenschen zum Ausdruck, dass die Sorge für den Frieden der Welt Rückhalt findet im Vertrauen auf den Frieden Gottes, (der höher ist als alle Vernunft).

Wir Christen vertrauen das Wirken für den Frieden dem Segen Gottes an – so wie es am Ende unserer Gottesdienste heißt: „Der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.“

Der Friede Gottes bildet Grund und Horizont allen menschlichen Bemühens. Durch ihn fühlen wir uns allen Friedensbemühungen von Kirchen und Gläubigen in allen Ländern verbunden. Wir bilden so ein weltweites Netzwerk von Christen, die – in Gottes Frieden aufgehoben – frei werden tolerant und bewusst für den Frieden aller einzutreten.

In diesem Sinne fühle ich mich verantwortlich für einen gerechten Frieden. Und ich werbe dafür, dass wir uns kraftvoll für ihn und eine versöhnliche Verschiedenheit einsetzen.

Tag der Deutschen Einheit

Als ehemaliger Berater des Ministers für Abrüstung und Verteidigung der DDR Rainer Eppelmann. Gehalten in einer Festveranstaltung der Gemeinschaft der Vielen und des Celler Schlosstheater in der CD-Kaserne in Celle. Die von mir ausgesuchten Anlagetexte wurden von Schauspielern des Schlosstheaters vorgetragen.

Zum 3. Oktober 2019

Wenn ich mich an den 3. Oktober 1990 als den Tag der Deutschen Einheit erinnere, dann kann ich das nicht losgelöst von den Ereignissen im Herbst 1989 tun, an die friedliche Revolution mit der Demonstration in Leipzig, an den Tag der Maueröffnung am 9. November, an die 168 Tage wirklich demokratischer DDR.

Um die Vereinigung als Teil eines geschichtlichen Prozesses zu verstehen, der mit der Selbstauflösung eines diktatorischen Staates mitsamt seiner bedrohlichen Armee begann und bis heute nicht wirklich abgeschlossen ist, müssen wir uns an die Situation von vor 30 Jahren erinnern.

Am 17. Juni 1989 – damals als „Tag der Deutschen Einheit“ in Erinnerung an den Aufstand von 1953 in Ostberlin ein Feiertag – sprach Erhard Eppler vor dem Deutschen Bundestag in Bonn:

Ich freue mich, dass ich vor Ihnen zu dem Thema sprechen darf, das mich vor vier Jahrzehnten in die Politik getrieben hat, das über Nacht wieder drängender, brisanter geworden ist und uns mehr denn je verbindliches Reden abverlangt. Wir hören schrille Töne aus Ländern, denen wir uns freundschaftlich verbunden wissen. Verwundert und verwirrt sehen wir uns mit Angstträumen konfrontiert, die mit unseren Hoffnungen nichts zu tun haben. Ein Gesamtdeutschland, dem Westen abgewandt, der europäischen Bindung müde, im Bunde mit der Sowjetunion auf dem Wege zur ökonomischen Hegemonie in Zentral- und Osteuropa, ein Viertes Reich aus der Asche der NATO erstehend — solche Befürchtungen sind offenbar auf einem anderen Stern angesiedelt als unsere Hoffnungen.

Die Ängste vor einem erstarkenden Gesamtdeutschland waren in Ost und West gleichermaßen virulent. Reibungslos verlief die Zustimmung zur Vereinigung am 3. Oktober 1990 nicht.

Und ohne die Demokratisierungsprozesse in Polen, Ungarn, der CSSR und im Baltikum wäre das Ende der DDR und damit die Vereinigung der beiden deutschen Staaten, die wir heute feiern, nicht möglich gewesen.

In den Bürgerrechtsgruppen, die im Herbst 1989 für Reisefreiheit, Gerechtigkeit, Redefreiheit, Demokratie und allgemeine Menschenrechte demonstrierten, stand die Abschaffung der DDR nicht auf dem Programm. Man wollte einen demokratischen Sozialismus verwirklichen.

Es gab vielmehr Überlegungen für eine Föderation oder einen Bundesstaat, vor allem aber die Idee ein neues europäisches Sicherheitssystem zu entwickeln. Und soweit die Opposition und Bürgerrechtler außenpolitische Aspekte überhaupt berücksichtigten, hielten sie Frieden, Abrüstung und Entmilitarisierung immer für wichtiger als die Einheit der Nation.

Auch diejenigen, die im Sommer 1989 mit ihrer Ausreise über Ungarn die Auflösung des Staates beförderten, gingen davon aus, dass die DDR weiter existieren würde. Sie gaben Wohnung, Arbeitsplatz und Freunde auf und machten sich von Prag oder Budapest aus auf den Weg ins Ungewisse. Es waren also gerade diejenigen, die nicht an das Ende des Systems glauben wollten, die den Zusammenbruch beschleunigten.

Und auch auf der großen Demonstration auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989 forderten die Teilnehmer*innen weder in Reden, noch in Sprechchören und auch nicht auf den Spruchbändern und Plakaten das »einige deutsche Vaterland«.

Dennoch verbinden wir die Erinnerung an den Herbst 1989 mit den beiden Losungen: „Wir sind das Volk“ und „Wir sind ein Volk“.

Bei genauem Hinsehen- bzw. Hinhören ist unter „Volk“ jeweils Verschiedenes verstanden worden:

„Wir sind das Volk“ riefen die Demonstrant*innen vom 9. Oktober den Sicherheitskräften und damit den Herrschenden entgegen.

Und zeitgleich stand auf einem Flugblatt von Pfarrer Wonneberger, das sich an die Sicherheitskräfte richtete: „… reagiert auf Friedfertigkeit nicht mit Gewalt. Wir sind ein Volk. Gewalt unter uns hinterlässt ewig blutende Wunden.“ Wonneberger appellierte also an das Verbindende über den Graben der Konfrontation hinweg.

Ab wann der Satz „Wir sind ein Volk“ als Forderung nach der deutschen Einheit gemeint war und skandiert wurde, ist strittig. Es war jedenfalls nicht vor dem Fall der Mauer.

Die Stasi notiert diese Losung für den 13. November. Massenhaft verbreitete sie sich vor allem durch Aufkleber und Plakate, die die West-CDU zum Jahreswechsel verbreitete.

Am 19. Dezember 1989 – anlässlich der öffentlichen Begegnung von Kohl und Modrow – schwenkten die Dresdner Bürger*innen auf dem Theaterplatz schwarz-rot-goldene Fahnen ohne Hammer, Zirkel und Ährenkranz sowie die grün-weiße Fahne Sachsens und skandierten im Chor die bekannte Zeile aus der Nationalhymne der DDR „Deutschland einig Vaterland“.

Die „Friedliche Revolution“ fand ohne Smartphones und ohne Handys statt. Die Demonstrant*innen waren sich immer bewusst, dass sie von der Stasi beobachtet und observiert wurden, dass sie riskierten, festgenommen und verhört zu werden.

Jeder und jede, die sich an der Revolte beteiligten, gingen ein hohes Risiko ein.

Ab Sommer 1988 hatte ich als Sprecher eines Arbeitskreises „Liberalismus und Kirche“ der FDP Niedersachsen regelmäßigen Kontakt mit Bürgerrechtler*innen in der Samaritergemeinde in Ostberlin. Wir dachten gemeinsam nach über die Möglichkeiten demokratischer Teilhabe, über die Stärkung und Entwicklung von  Freiheits- und  Bürgerechten in der DDR, sowie über die Sicherung des  Friedens in der damaligen Zeit der Hochrüstung der militärischen Blöcke und suchten nach Möglichkeiten der konkreten Umsetzung. Wir diskutierten Konzepte für das „Gemeinsame Haus Europa“ und länderübergreifenden europäischen Umweltschutz

Zu dem Kreis gehörten – um nur einige zu nennen – Rainer Eppelmann, Bärbel Bohley und Hans Peter Schneider.

Rainer Eppelmann hat gestern das große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland für seine bis heute andauernden Bemühungen für den deutschen Einigungsprozess erhalten.

Ein Jahr lang arbeiteten wir an einer gemeinsamen Erklärung zum 50. Jahrestag des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf Polen. Wenige Tage vor der Maueröffnung haben wir sie veröffentlicht. Obwohl die Stasi mehrere Informelle Mitarbeiter in unsere Gruppe platziert hatte, gab es von dieser Seite keine Restriktionen.

1989 wird Rainer Eppelmanns Mitglied des sogenannten Runden Tisches. Er wird zum Minister ohne Geschäftsbereich in der Regierung Modrow berufen. Aus Sicht der ehemaligen Mitstreiter*innen gehört er nun zu den Mächtigen, ein Teil der Freunde zieht sich zurück.

Schon als er den „Demokratischen Aufbruch“ als Partei gegründet hat, distanziert sich Bärbel Bohley von ihm, sie will der Bewegung „Neues Forum“ weiterarbeiten. NF – auch das Kürzel der Nationalen Front – wird Zeichen des Neuen Forums.

Im März 1990 finden die ersten demokratischen, freien und geheimen Wahlen in der DDR statt. Rainer Eppelmann wird in der Regierung de Maiziere Minister für Abrüstung und Verteidigung. Er beruft mich zum Leiter seines Beraterstabs, zu dem ab Juni 1990 auch Egon Bahr zählt.

Der 3. Oktober ist für mich nicht ohne den 23.August zu denken. Am 23. August hat die Volkskammer nachts um kurz vor 3 Uhr beschlossen, am 3. Oktober die Vereinigung zu vollziehen. Der Bericht über diese Volkskammersitzung im Tagesspiegel (siehe Anlage) liest sich heute noch spannend, und noch einmal neu im Spiegel des aktuellen Geschehens in London.

Ebenso der anliegende Text von Patrick Süßkind im Spiegel.

Die in diesen beiden Artikeln – beispielhaft – benannte Ambivalenz ist heute noch spürbar und führt immer wieder zu konfrontativen Auseinander-setzungen, zu Diskussionen um Schuld und Verstrickung um Stolz auf geleistete Hilfe und Beschämung durch vermeintliche Missachtung.

Am heutigen Feiertag zur Deutschen Einheit ist mir wichtig, daran zu denken und zu erinnern, dass

  • Die deutsche Einheit nur gelingen konnte, weil es keine Großmachtallüren und keinen Nationalismus gegeben hat.
  • Die Vier Siegermächte des zweiten Weltkrieges der Vereinigung zugestimmt haben.
  • Die deutsche Vereinigung nur möglich war, weil die Warschauer Paktstaaten Polen, Ungarn, CSSR und das Baltikum ihr Lösung von der UdSSR bereits betrieben und teilweise schon durchgesetzt hatten.
  • Der deutsche Einigungsprozess friedlich verlaufen ist und ist trotz vieler problematischer Entwicklungen insgesamt zufriedenstellend verlaufen ist.

In den vergangenen dreißig Jahren sind fast 2 Billionen Euro in den Aufbau Ost investiert worden – auch finanziert mit dem Solidaritätsbeitrag aller deutschen Bürgerinnen und Bürger aus West- und Ostdeutschland. Die Infrastruktur ist deutlich verbessert und oftmals besser als im Westen. Die blühenden Landschaften, von denen Bundeskanzler Kohl im Wahlkampf 1990 gesprochen hatte, sind sichtbar – wenngleich nicht überall. Die Hochschulen haben einen guten Standard, einen guten Ruf und guten Zulauf.

Der Tourismus boomt, die Altstädte sind weitgehend saniert und werden von Bürgern und Touristen angenommen. Auch wenn die Treuhand Fehler gemacht hat, so ist doch die Aufbauleistung im Wesentlichen gelungen. Die Rechtsstaatlichkeit ist umgesetzt, das Sozialsystem funktioniert.

Aus eigener Anschauung und Mitwirkung am Einigungsprozess kann ich feststellen, dass wir keine Vorgaben hatten, dass wir an einem Punkt Null anfangen mussten und dass alle Beteiligten in Ost und West mit großem Elan, mit viel Einsatz, großer Anstrengung und auch  mit Phantasie den Prozess gestaltet haben.

3 Millionen qualifizierte Kräfte sind aus dem Osten in den Westen abgewandert. Aber auch mehr als eine Million Bürger*innen aus dem Westen sind in den Osten umgesiedelt, um Neues zu wagen und Veränderung (mit)zu gestalten. Nicht alle hatten an ihrem neuen Ort Erfolg.

Wir sollten uns heute – auch wenn uns Frust und Ungeduld entgegenkommt, die enormen Leistungen wertschätzen, die Menschen auf beiden Seiten und allen Ebenen erbracht haben. Innerhalb von Monaten mussten sich die Wertesysteme, die Welt- und Menschenbilder wandelt und sie haben es getan. Nicht alle konnten das Tempo mithalten, nicht allen ist die Veränderung gelungen und mancher wollte sie auch nicht und mancher ist nachvollziehbar enttäuscht.

Ich wünsche mir, dass wir diesen heutigen Tag nutzen, um uns zu vergewissern und uns bewusst zu machen, dass diese Vereinigung ein Glücksfall war und ist – aber auch, dass es noch viel zu tun gibt.

ANLAGE 1

DER TAGESSPIEGEL, Freitag, 24. August 1990

Nächtliche Jubelszenen in der Volkskammer

Um 2 Uhr 50 fiel die Entscheidung über den DDR-Beitritt am 3. Oktober

Von unserem Korrespondenten

Gz. Berlin. Es war 2 Uhr 50 an diesem denkwürdigen 23. August 1990, als Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl dem Hohen Hause sagte, diesmal bereite es ihr Vergnügen, das Abstimmungsergebnis mitzuteilen: 294 Ja-Stimmen, 62 Nein-Stimmen, sieben Enthaltungen, keine ungültigen Stimmen. Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik auf Grund des Artikels 23 des Grundgesetzes war damit zum 3. Oktober mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit, für die 267 Stimmen ausgereicht hätten, erklärt.

Freudenszenen spielten sich auch bei den Abgeordneten und den Regierungsmitgliedern ab. Die meisten standen auf und applaudierten, die einen sichtlich bewegt, andere in nie zuvor erlebter Fröhlichkeit. Auch Ministerpräsident Lothar de Maiziere, der das Parlament durch einen erst am Abend gegen 19 Uhr gestellten Antrag auf Einberufung einer Sondersitzung vor die Notwendigkeit einer sofortigen Entscheidung gestellt hatte, wirkte gelöst. Der Druck des Beitrittsproblems war gewichen, der Fahrplan zur deutschen Einheit klar. Alles wird schneller geschehen, als man- es noch vor Tagen oder Wochen auch nur zu denken gewagt hatte.

Es hatte ja in der Luft gelegen, dass der Termin endlich festgemacht werden musste nach dem langen Gerangel und Gezerre, das nicht immer rationalem Problemverständnis, sondern allzu oft einem Bedürfnis nach parteitaktisch erwünschten populistischen Effekten entsprang. Dass de Maiziere entschlossen war, diesen Konflikt zu beenden, hatte er den Fraktionsvorsitzenden bei dem Treffen tags zuvor klargemacht, bei dem man sich auf den 14. Oktober verständigte — auf einen Kompromiss, der nur wenige Stunden hielt, weil die SPD nicht ihrem Fraktionsvorsitzenden Schröder folgte, der daraufhin zurücktrat.

Aber in der Parlamentssitzung, die um 16 Uhr begann und die das Ende der nach Ansicht vieler Politiker und Beobachter zu langen Sommerpause bedeutete, stand nur das gesamtdeutsche Wahlgesetz auf der Tagesordnung. Dass es — anders als in der blamablen Sondersitzung am 8. August — diesmal die Zweidrittelmehrheit fand, hatte Schadensbegrenzung und einen Rückgewinn an Reputation für das Parlament bedeutet. Erst als dieser Punkt abgehakt war, beantragte de Maiziere, der während der Sitzung ständig an einem Manuskript gearbeitet hatte, die sofortige Einberufung einer Sondersitzung zur Entscheidung über den Beitrittstermin.

Unterschiedliche Sachverhalte

Es war klar, dass dem Antrag nach der Geschäftsordnung stattgegeben werden musste. Als die zweite Sitzung an diesem Tage gegen 21 Uhr von Vizepräsident Reinhard Höppner eröffnet wurde, lagen zwei Anträge zu diesem Thema vor, die erkennen ließen, wie weit die Parteien noch voneinander entfernt waren. Die DSU, die schon am 17.- Juni einen-Antrag auf sofortigen- Beitritt gestellt hatte,- wiederholte ihn, nur mit der Fortschreibung des Datums auf den 22. August. Und eine Gruppe von mehr als 20 Abgeordneten aus der Fraktion CDU/Demokratischer Aufbruch forderte eine Festlegung, am 9. Oktober den Beitritt für den 14. Oktober, 24 Uhr, zu beschließen, also für das Ende des Tages, an dem die Landtagswahlen in der bisherigen DDR stattfinden werden.

Hier ging es nicht nur um unterschiedliche terminliche und politische Vorstellungen, sondern auch — der PDS-Vorsitzende Gregor Gysi machte darauf aufmerksam, wenngleich es Höppner längst wusste — um unterschiedlich zu bewertende Sachverhalte. Was die DSU verlangte, war ein konstitutiver Akt, der also eine Zweidrittelmehrheit erfordert hätte. Hingegen lief der Antrag aus der CDU/DA auf einen Beschluss, etwas erst später endgültig zu beschließen, hinaus. Dafür hätte die einfache Mehrheit genügt. Aber die Frage wäre damit nicht, wie es ja auch de Maiziere auf seine Weise wollte, verbindlich entschieden gewesen. Der Konflikt, den sich die DDR nicht leisten konnte, wäre weitergegangen.

Dass es eine lange Nacht wurde, lag weniger an den Reden als an den zahlreichen Beratungspausen und den zeitraubenden namentlichen Abstimmungen. Während im Plenum oft Leere und Müdigkeit herrschte, wurde in allerlei Gremien diskutiert und zur Probe abgestimmt. Das eigentliche Problem war, dass man eine sofortige verpflichtende Entscheidung noch in dieser Nacht wollte, die Zweidrittelmehrheit aber erst zusammengezimmert werden musste.

Dennoch war es der wohl beste Debattentag dieser am 18. März demokratisch gewählten Volkskammer. Nicht nur, dass die meisten Redebeiträge von staatspolitischer Perspektive zeugten: Endlich einmal waren sie nicht platte Statements, sondern dienten dem Dialog, der Erarbeitung der Mehrheit.

De Maiziere nannte seine Maßstäbe: Man brauche ein Ende der Diskussion, müsse geordnet in die deutsche Einheit gehen und sich der Geschichtlichkeit des Vorganges bewusst sein. Die täglichen Sorgen der Bürger dürften nicht solchen Diskussionen untergeordnet werden. Es gebe Aufgaben, die nur wir erfüllen können“. Darum, sagte er, den DSU-Antrag verwerfend, werde er seinen Auftrag erst als erledigt betrachten, wenn er alles ihm Obliegende auch getan habe. Und dann versöhnlich: Man müsse „die Sache über die Taktik stellen“, und er meine, dass „wir alle dasselbe wollen, nämlich das Beste für unsere Bürger“.

Jürgen Schwarz von der DSU sah das anders. Jeder Tag des Wartens koste Millionen und behindere unumgängliche Entscheidungen. Die Menschen brauchten einen klaren Weg; das ‚bankrotte Unternehmen DDR‘ müsse beendet werden. Die Partner bei den Zwei-plus-Vier-Gesprächen würden das schon- hinnehmen.

Günter: Krause von der CDU, der als Parlamentarischer Staatssekretär die Verhandlungen mit Bonn über den Einigungsvertrag führt, konterte hart: Ein Einigungsvertrag mit 900 Seiten bringe den DDR-Bürgern mehr Sicherheit als ein ungeregelter Beitritt. Auch müsse Deutschland außenpolitisch berechenbar bleiben. Wenn die KSZE-Staaten schon damit einverstanden seien, das Verhandlungsergebnis nicht erst auf dem Gipfeltreffen im November, sondern schon auf der New Yorker Außenministerkonferenz am 1. und 2. Oktober entgegenzunehmen, dann müsse man wenigstens diesen Termin respektieren, und dann sei der frühestmögliche Beitrittstag der 3. Oktober.

Den Sozialdemokraten und anderen, denen die Länderbildung am 14. Oktober als weitere unerlässliche Voraussetzung erschien, suchte Krause eine Brücke zu bauen. Der Einigungsvertrag werde Anpassungs- und Übergangsbestimmungen enthalten, die einen früheren Beitritt möglich machen würden, etwa die Einsetzung von Länderbeauftragten, die bis zur Wahl der Länderregierungen fungieren würden, beratende Stimmen im Bundesrat und volles Stimmrecht im Bundestag.

Wolfgang Thierse, SPD-Vorsitzender und gerade auch Fraktionschef geworden, brachte wieder den 15. September ins Spiel, drei Tage nach Abschluss der Zwei-plus-Vier-Gespräche. Den Beitritt wollte er noch nicht an diesem Abend beschließen: Die Festlegung auf den Beitritt dürfe „uns nicht auf den Einigungsvertrag festlegen“. Aber wenn man über diesen befunden habe, müsse die „dramatisch sich zuspitzende Wirtschaftssituation“ das Handeln bestimmen.

Gysi ging das alles zu schnell: Man solle nur den Beschlusstag festlegen und nicht die Illusion schüren, dass allein schon der Beitritt die ungelösten Probleme lösen könne. Und zu den vielen Terminvorschlägen: „Ich kann diese Motive nicht mehr nachvollziehen,“

Rainer Ortleb von der FDP hingegen wollte die sofortige Entscheidung, sah aber das Problem: Wo findet sich die Zweidrittelmehrheit? Es war etwa Mitternacht, als er sagte, man müsse vermitteln, die Stimmungen richtig bewerten. Wieder gab es Unterbrechungen. Dann wurde abgestimmt. Der DSU-Antrag verfiel um 0 Uhr 45 der Ablehnung (56 Ja-Stimmen, 183 Nein-Stimmen, 125 Enthaltungen). Nachdem auch einige andere Anträge abgelehnt worden waren, wurden die Diskussionen innerhalb der DSU-Fraktion erregt.

Dann bahnt sich ein Umdenken an. Jens Reich vom Bündnis 90/Grüne sieht keine „vermittelnde Formulierung“ zwischen sofortigem Beitritt und der Erfüllung von Bedingungen. „Wir können nur Ja oder Nein sagen.“ Das meint auch Gysi, der „der Regierung nicht jeden Spielraum nehmen“, also abwarten will. Dann bringt es Thierse auf den Punkt: Die DDR könne doch nicht damit drohen, der Bundesrepublik nicht beizutreten. Im. übrigen: „Wir fallen doch nicht, unter die Räuber.“ Nun räumt auch Schwarz von der DSU Kompromissbereitschaft ein, und Ortleb meint: „Wir sollten zum Schluss finden.“

Gysis sentimentalen Töne

Der besteht in einem gemeinsamen Antrag von CDU, DSU, FDP und SPD, sofort und verbindlich den Beitritt zum 3. Oktober zu beschließen. Die Auszählung der Stimmzettel dauert eine gute Stunde. Dann die Bekanntgabe des historischen Ergebnisses. Frau Bergmann-Pohl bemerkt dazu: „Ich glaube, das ist ein wirklich historisches Ereignis. Ich danke allen, die es im überparteilichen Konsens ermöglicht haben.“

Es gibt noch zwei persönliche Erklärungen. Gysi schlägt sentimentale Töne an und bedauert den Beschluss über den „Untergang der DDR“, der daraufhin von der Mehrheit laut beklatscht‘ wird. Und Verkehrsminister Horst Gibtner, um Mitternacht 50 Jahre alt geworden, äußert Freude über dieses „große Geschenk“ und hofft nun auf konstruktive Arbeit, „wie unsere Wähler das von uns erwarten“.

Um 2 Uhr 57 ist alles gesagt und getan.

ANLAGE 2

Die Ambivalenz zwischen Jubel und Ablehnung hat der Schriftsteller Patrick Süskind für mich klärend ausgedrückt:

DER SPIEGEL 38/1990

Deutschland, eine Midlife-crisis

Von Patrick Süskind

 Der Schriftsteller Patrick Süskind, 1949 im bayerischen Ambach geboren, erlangte mit dem Buch „Das Parfüm“ (1985) literarischen Weltruhm. Sein Ein-Personen-Stück „Der Kontrabaß“ ist seit Jahren ein Hit im deutschsprachigen Theater. Der Erfolgsautor, der auch Drehbücher für Fernseh-Serien („Kir Royal“) schreibt, lebt, notorisch publikumsscheu, in München und Paris. Durch die neuesten Entwicklungen in Deutschland sieht Süskind sich und seine Generation aufs höchste irritiert.

Am Donnerstag, dem 9. November 1989, um 19.15 Uhr – ich war damals 40 und zweidrittel Jahre alt – hörte ich in Paris in den französischen Rundfunknachrichten die kurze Meldung, es habe die Ost-Berliner Regierung beschlossen, ab Mitternacht die Grenze zur Bundesrepublik und die zwischen Ost- und West-Berlin zu öffnen.

Sehr gut! dachte ich. Endlich tut sich was. Endlich bekommen diese Leute das elementare Recht auf Freizügigkeit. Endlich schwenkt auch die DDR auf den von Gorbatschow vorgezeichneten Weg der Reformen, der Demokratisierung und Liberalisierung ein wie zuvor schon Ungarn und Polen, wie vermutlich bald die Tschechoslowakei und Bulgarien und wie hoffentlich eines Tages auch das unter dem widerwärtigsten der östlichen Potentaten darbende Rumänien. Ich schaltete das Radio ab und ging essen. Noch war die Welt in Ordnung. Noch begriff ich, was sich politisch in der Welt tat, konnte dem raschen, aber durchaus vernünftig und kalkulierbar erscheinenden Tempo der europäischen Veränderungen folgen. Noch fühlte ich mich so einigermaßen auf der Höhe der Zeit.

Dem war nicht mehr so, als ich ein paar Stunden später vom Essen zurückkehrte. Ich weiß nicht, war es vor oder nach Mitternacht, also noch der 9. oder schon der 10. November – jedenfalls schaltete ich abermals das Radio an, diesmal den Deutschlandfunk, gerate in eine Direktreportage aus Berlin, wo unterdessen eine Art Karnevalsstimmung ausgebrochen zu sein scheint, und höre ein Interview mit dem Regierenden Bürgermeister Walter Momper, dessen Einlassungen in dem Satz gipfeln: „Heute Nacht ist das deutsche Volk das glücklichste Volk auf der Welt!“

Ich war wie vom Schlag getroffen. Ich glaubte mich verhört zu haben. Ich musste den Satz laut nachsprechen, um ihn zu begreifen: „Heute Nacht ist das deutsche Volk das glücklichste Volk auf der Welt!“ – und begriff ihn trotzdem nicht. Hatte der Mann nicht mehr alle Tassen im Schrank? War er betrunken? War ich’s? Was meinte er mit „das deutsche Volk“? Die Bürger der Bundesrepublik oder die der DDR? Die West- oder die Ost-Berliner? Alle zusammen? Womöglich sogar uns Bayern? Am Ende gar mich selbst? Und wieso glücklich? Seit wann kann ein Volk – gesetzt es gäbe überhaupt so etwas wie das deutsche Volk – glücklich sein? Bin etwa ich glücklich? Und weshalb befindet Walter Momper darüber? Und ich erinnere mich eines Wortes von Gustav Heinemann, dem sprödesten, unspektakulärsten und deshalb vielleicht typischsten Präsidenten der Bundesrepublik, der auf die Frage eines Journalisten, ob er Deutschland liebe, trocken geantwortet hat: „Ich liebe meine Frau.“

Mein Gott, Walter Momper! dachte ich, wie konntest du dich so vergreifen! Deinen Satz wird man dir morgen in den Kommentaren um die Ohren hauen. Bis an dein Lebensende wird er dich verfolgen. Ein für allemal lächerlich gemacht hast du dich mit diesem einen, unbedacht dahingesprochenen Satz!

Doch als ich am nächsten Tag die Zeitungen studierte (deutsche gab es nicht mehr, die hatte man den Händlern aus den Händen gerissen) und eifrig Radio hörte, ist Walter Momper der Held des Tages. Nicht nur schlägt ihm niemand seinen Satz um die Ohren, nein, der Satz vom „glücklichsten Volk“ geht um die Welt, ist die Losung der Stunde, wird später (ähnlich dem „Tor des Monats“) zum „Wort des Monats“ gekürt, ja zum „Wort des Jahres 1989″.

Kaum erholt von diesem Schock, entnehme ich ein paar Tage später der Zeitung, daß Willy Brandt, das Idol meiner Jugend, Sozialdemokrat wie Momper, die Parole ausgegeben hat: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“, womit er, ein Zweifel war nicht möglich, die DDR und die Bundesrepublik meint haben musste, inklusive ganz Berlin.

Senilität, denke ich. Ein klarer Fall von Alzheimer oder einer sonstigen altersbedingten Störung des Denk- und Urteilsvermögens. Denn was gehört denn da zusammen, bitte sehr? Gar nichts! Im Gegenteil: Nichts Unzusammenhängenderes lässt sich denken als DDR und BRD! Verschiedene Gesellschaften, verschiedene Regierungen, verschiedene Wirtschaftssysteme, verschiedene Erziehungssysteme, verschiedener Lebensstandard, verschiedene Blockzugehörigkeit, verschiedene Geschichte, verschiedene Promillegrenze – gar nichts wächst da zusammen, weil gar nichts zusammengehört. Schade um Willy Brandt, der sich doch wahrlich in Ehren aufs Altenteil zurückziehen könnte! Warum muss er sich exponieren und solchen Unsinn verzapfen und damit seinen guten Ruf aufs Spiel setzen?

Und wieder liege ich falsch. Ebenso wie zuvor das Wort Mompers ist nun die Äußerung Brandts Parole des Tages, wird enthusiastisch beklatscht auf Massenkundgebungen in Ost und West, wird als Leitformel aufgegriffen, nicht nur von seiner eigenen Partei, sondern auch von den Regierungsparteien, ja sogar von den Grünen.

Und schließlich kam der dritte und letzte Schlag ins Kontor meines historisch-politischen Selbstverständnisses und Selbstbewusstseins, einige Zeit später zwar, aber im gleichen Zusammenhang stehend: Im Februar 1990 sehe ich im deutschen Fernsehen einen Bericht über den Rückflug des Kanzlers Kohl aus Moskau, wo er sich das prinzipielle Plazet der Sowjets zur deutschen Einheit abgeholt hatte – oder abgeholt zu haben glaubte, das tut nichts zur Sache. Der Kanzler Kohl steht im Gang des Flugzeugs, offensichtlich bester Laune, er hält ein gefülltes Sektglas in der Hand, in welchem sich, wie der Kommentator erläutert, Krimsekt befindet, und brüllt den im Fond sitzenden Journalisten und Delegationsmitgliedern zu: „Habt ihr alle was zu trinken da hinten?“ Aha, denke ich, der Mann hat Geburtstag und will einen ausgeben, das ist ja nett von ihm. Weit gefehlt! Der Kanzler Kohl hat, wie ich später dem Lexikon entnehme, erst am 3. April Geburtstag und keineswegs im Februar. Und er will auch nicht einfach einen ausgeben, weil er gerade so guter Laune ist, sondern er hebt, nachdem ihm durch allgemeines zustimmendes Gemurmel signalisiert wurde, dass jedermann zu trinken habe, sein Glas und ruft: „Also dann: Auf Deutschland!“ Und der hinter ihm stehende, zu vier Fünfteln von ihm verdeckte Außenminister beugt sich ein wenig zur Seite, damit man ihn besser sehen könne, und auch er hebt sein Glas, ein wenig zaghafter vielleicht, und trinkt: „Auf Deutschland!“

Mir blieb die Spucke weg. Bis dato hatte ich noch nie einen Menschen auf Deutschland trinken sehen.

Nun muß ich zugeben, daß ich mit Trinksprüchen an und für sich nicht viel anfangen kann. Dieses emphatische Ausbringen von Toasts und, schlimmer noch, das sich meist daran anschließende Aneinanderrammen von Gläsern kam mir immer überflüssig, peinlich und ein wenig unhygienisch vor. Allenfalls geht mir ein dahingesagtes „Zum Wohle!“ von den Lippen und ein flüchtig angedeutetes Heben des Glases von der Hand. Wenn’s sein müsste und wenn eine unvermeidliche feierliche Veranlassung es geböte, wäre ich womöglich bereit, auf eine Person zu trinken, einen Jubilar, einen Laureaten; meinetwegen auch noch auf so nebulöse Dinge wie „eine glückliche Zukunft“, „ein gutes Gelingen“ oder ähnliches – niemals aber auf ein Land. Und von allen Ländern der Welt am allerwenigsten auf Deutschland, mit dessen Namen – es ist ja doch erst 50 Jahre her! – sich unwiderruflich der große Krieg und Auschwitz verbinden.

Jaja, ich weiß, so hat er’s nicht gemeint, der Kanzler Kohl, als er „auf Deutschland!“ trank. Nicht das alte, aggressiv Deutschland hatte er im Sinn, sondern das gegenwärtige und zukünftige, ein friedliches, zivilisiertes und in Europa eingebundenes. In die Zukunft ging sein Blick, nicht in die Vergangenheit, ich glaub’s ihm wohl. . .

DER SPIEGEL 38/1990 S. 118-119

Der Beitrag ist dem Buch „Angst vor Deutschland“ (Herausgeber. Ulrich Wickert) entnommen, das Ende September 1990 bei Hoffmann und Campe erschien.

 ANLAGE 3

Gemeinsame Erklärung

FR 14-16. Juli 1990

Bundeskanzler Helmut Kohl und der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow haben am Dienstag eine „Gemeinsame Erklärung“ unterschrieben, die in der von der Deutsche Presse-Agentur verbreiteten Fassung folgenden Wortlaut hat:

Die Bundesrepublik Deutschland und die Sowjetunion stimmen darin überein, dass die Menschheit an der Schwelle zum dritten Jahrtausend vor historischen Herausforderungen steht. Probleme, die von lebenswichtiger Bedeutung für alle sind, können nur gemeinsam von allen Staaten und Völkern bewältigt werden. Das erfordert neues politisches Denken.

  • Der Mensch mit seiner Würde und seinen Rechten und die Sorge für das Überleben der Menschheit müssen im Mittelpunkt der Politik stehen.
  • Das gewaltige Potential an schöpferischen Kräften und Fähigkeiten des Menschen und der modernen Gesellschaft muss für die Sicherung des Friedens und des Wohlstands aller Länder und Völker nutzbar gemacht werden.
  • Jeder Krieg, ob nuklear oder konventionell, muss verhindert, Konflikte in verschiedenen Regionen der Erde beigelegt und der Frieden erhalten und gestaltet werden.
  • Das Recht aller Völker und Staaten, ihr Schicksal frei zu bestimmen und ihre Beziehungen zueinander auf der Grundlage des Völkerrechts souverän zu gestalten, muss sichergestellt werden. Der Vorrang des Völkerrechts in der inneren und internationalen Politik muss gewährleistet werden.
  • Die Erkenntnisse moderner Wirtschaft, Wissenschaft und Technik bieten ungeahnte Möglichkeiten, die allen Menschen zugutekommen sollen. Risiken und Chancen, die sich hieraus ergeben, verlangen gemeinsame Antworten. Es ist daher wichtig, die Zusammenarbeit auf allen diesen Gebieten auszuweiten, Handelshemmnisse jeglicher Art weiter abzubauen, neue Formen des Zusammenwirkens zu suchen und zum beiderseitigen Vorteil dynamisch zu nutzen.
  • Die natürliche Umwelt muss im Interesse dieser und künftiger Generationen durch entschlossenes Handeln gerettet, Hunger und Armut in der Welt müssen überwunden werden.
  • Neue Bedrohungen einschließlich Seuchen und internationaler Terrorismus müssen energisch bekämpft werden.

Beide Seiten sind entschlossen, ihrer sich aus dieser Einsicht ergebenden Verantwortung gerecht zu werden. Fortbestehende Unterschiede in den Wertvorstellungen und in den politischen und gesellschaftlichen Ordnungen bilden kein Hindernis für zukunftsgestaltende Politik über Systemgrenzen hinweg.

Erster Teil der gemeinsamen Erklärung die folgenden Teile beschäftigen sich vorwiegend mit der Sicherheitspolitik

Seele

Marktzeit in der Stadtkirche St. Marien in Celle am 17. August 2019

Herzlich willkommen zur Marktzeit in der Kirche Sankt Marien in Celle – zu einer halben Stunde Innehalten und Zuhören und Nachdenken.

I

Es war, als hätt‘ der Himmel die Erde still geküsst,
dass sie im Blütenschimmer von ihm nun träumen müsst.

Die Luft ging durch die Felder, die Ähren wogten sacht.
Es rauschten leis‘ die Wälder. So sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus,
flog durch die stillen Lande als flöge sie nach Haus.

Mit diesen Versen von Eichendorff lade sich Sie ein, einen Augenblick mit mir über die Seele nachzudenken. 

Das griechische Wort Psychä steht sowohl für Seele als auch für „bewegt“, „buntschillernd“, also für etwas wie einen Schmetterling. Mich verzaubert dieses Bild von meiner Seele immer wieder, die da weit ihre Flügel ausspann, um – wie ein Schmetterling – durch die stillen Lande nach Haus zu fliegen.

Die Seele wird allgemein als der nicht materielle Teil des Menschen bezeichnet, dessen Nachweis sich allen Messmethoden der Physik und der Biologie entzieht.

Aber auch diejenigen, die die Existenz einer Seele leugnen, glauben meist an psychische Phänomene wie Vorstellen, Begehren, Fühlen und Wollen als Tätigkeiten der Psyche.

Religion, Philosophie und Psychologie haben eine jeweils eigene Vorstellung und Bedeutung der Seele entwickelt.

Der griechische Philosoph Aristoteles hatte bereits die Psyche als Seelenkraft beschrieben, die Vorstellungen entwickelt und denken kann.

Die Seele wurde im 19. Jahrhundert auch als „das innere Thätigkeitsprinzip eines lebendigen Wesens“ bezeichnet. Diese Kennzeichnung führte zu der Überlegung, ob nicht auch Tieren oder gar Pflanzen eine Seele zuzuschreiben wäre.

Im christlich geprägten Abendland hat sich die Vorstellung einer Trias von Körper, Geist und Seele als wesenbestimmendes Bild vom Menschen durchgesetzt. Dabei wird die Seele als der unsterbliche Teil des Menschen verstanden.  Viele glauben auch an eine Wiedergeburt der Seele.

Wenn wir Christen von Seele sprechen, folgen wir dem Evangelisten Matthäus, der Jesus den Ausspruch zumisst: 

»Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt«  (Matth. 22).

Und bei Matthäus lesen wir auch den berühmten Spruch:

Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? (Matth. 16-26)

Die Seele bedarf der Pflege. Für die griechischen Philosophen war die gesunde Seele die unabdingbare Voraussetzung zur Erkenntnis von Wahrheit, ja von Erkenntnis schlechthin.

Das bedeutet, dass wir allein mit sinnlichen Wahrnehmungen, mit Messen, Zählen und Wiegen zu keiner verbindlichen Erkenntnis kommen können. Es bedarf dazu der Seele.

In vielen Kulturen wird die Seele als Essenz des Lebens betrachtet. Sie ist der nichtkörperliche Teil unserer Person, ein Bindeglied zur Transzendenz, aber auch eine unsere Gesundheit bestimmende Instanz.

Wir müssen also aufpassen, dass uns unsere Seele nicht verloren geht. Wir müssen sie uns vertraut machen und sind für sie verantwortlich. Wir können uns – in der Hoffnung, dass sie unsterblich ist – der Bitte des barocken Dichters Andreas Gryphius anschließen:

Lass, wenn der müde Leib entschläft, die Seele wachen.
Und wenn der letzte Tag wird mit mir Abend machen,
so reiß mich aus dem Tal der Finsternis zu dir

II

Die Geschichte des christlichen Abendlandes ist auch ein Kampf um die Seele des Menschen, bzw. ihre Definition. Der Einfluss der griechischen Philosophen, ihre Vorstellung von einer unsterblichen Seele und von der Wiedergeburt der Seele ist unübersehbar.

Es dauert bis 1515, bis die katholische Kirche den Frauen eine Seele zuerkannte.

Viel zu lange ging auch die herrschende Meinung davon aus, dass Heiden und sogenannte Wilde und Sklaven keine Seele hätten. Erst die Taufe mache aus dem Ungläubigen einen Menschen, so die Vorstellung.

Für mich ist der Mensch ein beseeltes Wesen und seine Würde ist eng mit seiner Seele verknüpft.

Daraus ergeben sich dann (mindestens) zwei Fragen, die Einfluss auf politisch und gesellschaftliche Entwicklungen haben.

Erstens: Wann kommt die Seele in den Körper? Wann wird das sich entwickelnde Wesen Mensch zur beseelten Person? Und daraus abgeleitet: welche Würde muss einem Embryo zugesprochen werden? Bis zu welchem Stadium seiner Entwicklung und vor allem ab wann? Ist ein Blasenkeim noch eine Sache oder schon ein beseeltes Wesen?

Die Ethikkommission hat den Zeitpunkt der Einnistung des sogenannten Blasenkeims in die Gebärmutter als die Entstehung des Menschen festgelegt.

Entsprechend wurde das Embryonenschutzgesetz formuliert.

Die zweite große Frage ist: Wann verlässt die Seele den Körper? Wann wird aus dem Menschen eine Leiche, eine Sache? Seit 1982 definiert nicht mehr der Herztod das Ende des Lebens, sondern der Hirntod. Der Menschen endet also nicht mehr mit dem letzten Atemzug, sondern mit dem Absterben der Gehirnzellen.

Was aber mit unserer Seele passiert, bleibt unserer Fantasie überlassen.

Institutionen der Zellforschung und der Reproduktionsmedizin, der vorgeburtlichen Diagnostik, Kontrollen und Eingriffsverfahren haben andererseits ein großes Interesse daran, die Seele als tatsächlichen Bestandteil des eine Würde besitzenden Menschen zu leugnen.

2014 durchforstete der Psychologe Ulrich Weger von der Uni Witten/Herdecke die ihm zur Verfügung stehenden Datenbanken und fand heraus, dass in den Fachartikeln das Wort soul (Seele) nur 387 mal erwähnt wurde, der Begriff brain (Gehirn) hingegen 37 422 mal. Und er bemerkte, dass 2014 in psychologischen Journalen nur ganze zwei Mal die Rede von der Seele gewesen sei.

Wenn das stimmt, müssen wir aufpassen, dass unsere Seele als Vorstellung keinen Schaden nimmt, dass sie nicht ganz aus unserem Leben verschwindet.

Für mich ist die Seele ein lebendiger Teil meines Wesens. Sie befähigt mich zu lieben, zu hoffen und zu glauben. Sie macht meine Einzigartigkeit aus. Der Verlust der Seele würde meinem Leben den Sinn und die Tiefe des Erlebens rauben. Sie würde mir die Würde nehmen und die Fähigkeit, mit meinen Mitmenschen ein Wir zu gestalten und die Fähigkeit dem Du Gottes zu begegnen.

Die Seele bedarf als Bestandteil meiner Person und als Bestandteil unserer lebenswerten mitmenschlichen Kultur der Pflege, wir müssen sie uns vertraut machen und für sie Verantwortung übernehmen.

Lassen Sie mich mit Eichendorff schließen:

Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus,
flog durch die stillen Lande als flöge sie nach Haus.

 

Himmel

Marktzeit in der Stadtkirche St. Marien in Celle am 15. Juli 2019

I

Ich begrüße Sie ganz herzlich – heute am Samstag nach Pfingsten – zur Mittagspause zur Marktzeit hier in der Kirche Sankt Marien in Celle: zu einem Augenblick Innehalten und Zuhören und Nachdenken.

Vor 240 Jahren forderte Goethe mit seinem Gedicht Prometheus von Zeus, seinen Himmel zu bedecken und uns die Erde zu lassen.

PROMETHEUS

Bedecke deinen Himmel, Zeus, mit Wolkendunst!
Und übe, Knaben gleich, der Disteln köpft,
an Eichen dich und Bergeshöhn!
Musst mir meine Erde doch lassen stehn,
und meine Hütte, die du nicht gebaut,
Und meinen Herd, um dessen Glut Du mich beneidest.

Ich kenne nichts Ärmers unter der Sonn als euch Götter.
Ihr nähret kümmerlich von Opfersteuern und Gebetshauch eure Majestät
Und darbtet, wären nicht Kinder und Bettler hoffnungsvolle Toren.

Da ich ein Kind war, nicht wusste, wo aus, wo ein,
Kehrte mein verirrtes Aug zur Sonne-,
als wenn drüber wär ein Ohr, zu hören meine Klage,
Ein Herz wie meins, sich des Bedrängten zu erbarmen.

Wer half mir wider der Titanen Übermut ?
Wer rettete vom Tode mich, von Sklaverei?
Hast du’s nicht alles selbst vollendet, heilig glühend Herz ?
Und glühtest, jung und gut,
Betrogen,
Rettungsdank dem Schlafenden da droben?
Ich dich ehren ? Wofür ?
Hast du die Schmerzen gelindert je des Beladenen?
Hast du die Tränen gestillet je des Geängsteten ?
Hat nicht mich zum Manne geschmiedet
die allmächtige Zeit und das ewige Schicksal,
Meine Herrn und deine?
Wähntest du etwa, ich sollte das Leben hassen,
In Wüsten fliehn,
Weil nicht alle Knabenmorgenblütenträume reiften ?

Hier sitz ich, forme Menschen nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, weinen, genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich.

200 Jahre später besingt Reinhard Mey den Himmel so:

Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein.
Alle Ängste, alle Sorgen, sagt man
Blieben darunter verborgen
Und dann würde, was hier groß und wichtig erscheint,
plötzlich nichtig und klein.

Der Himmel über den Wolken wird zum Sehnsuchtsort  und verheißt grenzenlose Freiheit, ein Ort, der unseren Blick von den Nichtigkeiten und Kleinheiten der Welt befreit.

II

Die Kosmologen, jene Forscher und Forscherinnen, die sich mit dem Kosmos und dem Universum als Ganzem befassen, gehen davon aus, dass sich das Universum nach dem Urknall innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde um ein Vielfaches aufgebläht hat, entfesselt von einer unbekannten Energie. Diese mysteriöse Abstoßungskraft wird heute »dunkle Energie« genannt. Sie treibt das Universum immer noch auseinander.

Nach derzeitigem Stand der Erkenntnis besteht das Universum zu 6 Prozent aus bekannter Materie gegenüber 27 Prozent aus dunkler Materie und zwei Drittel dunkler Energie.

Das heißt: Das Universum besteht zum größten Teil aus Imaginiertem, aus Vorstellungen.

Kann an die Vorstellung vom Himmel als Ort über den Wolken, der sich ständig ausdehnt auch als Ort grenzenloser Freiheit gelten, wie Reinhard Mey suggerierte?

Vom Himmel aus gesehen werden unsere promethischen Vorstellungen auf jeden Fall neu einzuordnen sein.

Vor einem Jahr erschien das Buch „HOMO DEUS“ des israelischen Philosophen Yuval Noah Harari. Darin beschreibt er den Menschen als gottgleiche Schöpfungskraft, die mit Hilfe der neueren Technologien schöpferisch und zerstörerisch zugleich eine neue Stufe der Evolution beschreitet.

Der Mensch wird – nach dieser Beschreibung – zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde.

Ist damit der Himmel abgeschafft?

Für mich als Christ ist der Himmel die göttliche Wohnung und der Aufenthaltsort der Seligen – im Gegensatz zur Erde, als dem Ort der Endlichkeit und als dem Ort von Schmerz und Sünde.

Wir Christen feiern Ostern die Auferstehung Jesu Christi und damit die versprochene Vergebung unserer Sünden und wir feiern Pfingsten – das Fest nach Himmelfahrt – als den Geburtstag unserer Kirche.

Für Atheisten mögen die damit verbundenen Geschichten unglaubwürdig sein. Gleichwohl sind dies Geschichten, die uns etwas Unverzichtbares erzählen.

Sie sind Geschichten des Glaubens und der Hoffnung auf Erlösung und Befreiung – weitergereicht von Generation zu Generation.

Sie sind Geschichten, die uns daran erinnern, erinnern sollen, dass wir – individuell oder kollektiv – immer nur mit einem utopischen Vorgriff leben können, dass wir auf einen Horizont hin ausgerichtet sein müssen, der das überschreitet, was ist.

So ist der Himmel für mich ein Ort, an dem ich mich verankern kann. Ich brauche den Glauben an das Unglaubliche, an das Trotzdem, das sich in einer trostlosen Gegenwart den Widerständen der herrschenden Ideologien widersetzt. Ohne diesen Himmel ist für mich die Gegenwart kaum auszuhalten.

Wenn die Ostdeutschen 1989 nicht dem Realistischen getrotzt hätten, wenn sie nicht an das Unmögliche geglaubt hätten, wäre die Wende nie möglich gewesen. Wer sich nur an dem ausrichtet, was ist, kann Unfreiheit und Knechtschaft nicht überwinden, kann die Wirklichkeit der Gegenwart nicht überschreiten.

Deshalb halte ich am Himmel als Sehnsuchtsort – als Ort Gottes – fest.

Über uns allen wölbt sich der gleiche Himmel – aber wir haben alle unseren eigenen Horizont.

Gehen Sie gesegnet in das Wochenende auf der Suche nach Ihrem Himmel!

Herbst

Marktzeit in der Stadtkirche St. Marien in Celle am 12. September 2015

I

Nutz den Frühling Deines Lebens!
Leb den Sommer nicht vergebens
Denn alsbald stehst Du im Herbste
Und der Winter naht – dann sterbste!

Mit diesem Gedicht, das mir meine Mutter immer wieder vorsprach, begrüße ich Sie ganz herzlich zur Mittagspause hier in der Stadtkirche St. Marien in Celle. Ich lade Sie ein zu einer halben Stunde Innehalten, Hören und Nach-denken.

Ich stehe deutlich im Herbst meines Lebens. Jahreszeitlich erleben wir zur Zeit den Übergang vom Sommer zum Herbst: den Altweibersommer. Und heute ist die Witterung schon ziemlich herbstlich.

Der Herbst ist die Jahreszeit, die das Jahresende einläutet. Die zum Nachdenken einlädt und uns verführt – oder zwingt, auch an das Lebensende zu denken.

Gestern auf dem Kongress SechzigplusKirche der Landeskirche Hannover kennzeichnete der Landesbischof das Ergebnis seiner Beobachtungen mit dem Satz: „Die Generation der über 60Jährigen tut alles, um dem Tod so fern wie möglich zu sein.“ Und der Leiter des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD stellte heraus: „Die Erwartung und die Nähe zum Tod wird immer weiter nach hinten geschoben“.  So scheint sich die Sicht auf den Herbst des Lebens zu ändern.

Ich will meine Bilder vom Herbst, mit denen ich mein Lebensgefühl gestaltend begleitet habe, dem zur Seite stellen. Mehrfach habe ich Brahms Requiem gesungen, auch in unserer Stadtkirche, mit der Mahnung Brahms’:  „Herr, lehre doch mich, dass ein Ende mit mir haben muss und mein Leben ein Ziel hat, und ich davon muss.“

Rilke beginnt eines seiner Herbstgedicht mit den Worten:

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten

Friedrich Hebbel beschreibt für mein Empfinden nur vordergründig die Natur in seinem : H e r b s t b i l d

Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah!
Die Luft ist still, als atmete man kaum,
Und dennoch fallen raschelnd, fern und nah,
Die schönsten Früchte ab von jedem Baum.
O stört sie nicht, die Feier der Natur!
Dies ist die Lese, die sie selber hält,
Denn heute löst sich von den Zweigen nur,
Was vor dem milden Strahl der Sonne fällt.

Er erdichtet eine Einmaligkeit, ein Erstaunen über einen Herbsttag, „wie ich keinen sah.“

Auch Eduard Möricke beschreibt seinen Septembermorgen scheinbar  vordergründig

Im Nebel ruhet noch die Welt,
noch träumen Wald und Wiesen:

Wäre da nicht der Doppelpunkt hinter den Schilderungen des „Noch“ und das folgende „Bald“ , das auf das „warme Gold“ verweist, könnte man auf äußerliche Sinneseindrücke tippen, aber die poetischen Bilder  durchaus auch als Beschreibung eines Zustandes im unverstellten Himmel einer gemeinten Ewigkeit deuten:

Bald siehst du, wenn der Schleier fällt,
den blauen Himmel unverstellt,
Herbstkräftig die gedämpfte Welt
In warmem Golde fließen.

II

Bei WIKIPEDIA lese ich unter dem Stichwort Altweibersommer: „Das kurzzeitig trockene Wetter erlaubt eine gute Fernsicht, intensiviert den Laubfall und die Laubverfärbung.

Vergleichen Sie mit mir diese Aussage mit den Bildern des Dichters

GEORG TRAKL

Am Abend, wenn die Glocken Frieden läuten,
Folg ich der Vögel wundervollen Flügen,
Die lang geschart, gleich frommen Pilgerzügen,
Entschwinden in den herbstlich klaren Weiten.
Hinwandelnd durch den dämmervollen Garten
Träum ich nach ihren helleren Geschicken
Und fühl der Stunden Weiser kaum mehr rücken.
So folg ich über Wolken ihren Fahrten.
Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern.
Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen.S
Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern,
Indes wie blasser Kinder Todesreigen
Um dunkle Brunnenränder, die verwittern,
Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.

Astern, die letzten Blüten im Herbst,  sind Blumen, die mit den Asphodelen gleichzusetzen sind, den Totenblumen der griechischen Mythologie. Die Seelen der Verstorbenen überqueren die Asphodelenwiese die den Acheron begrenzt, den Fluss der mit dem Wasser Styx gefüllt ist, dem Wasser des Vergessens.

Gottfried Benn hat den Astern ein Denkmal gesetzt mit seinem Gedicht:

Astern -, schwälende Tage,
Alte Beschwörung, Bann,
Die Götter halten die Waage
Eine zögernde Stunde an.
Noch einmal die goldenen Herden
Der Himmel, das Licht, der Flor,
Was brütet das alte Werden
Unter den sterbenden Flügeln vor?
Noch einmal das Ersehnte,
Den Rausch, der Rosen Du -,
Der Sommer stand und lehnte
Und sah den Schwalben zu,
Noch einmal ein Vermuten,
wo längst Gewissheit wacht:
Die Schwalben streifen die Fluten
Und  trinken Fahrt und Nacht.

 Eigentlich ist das an Tiefe nicht zu überbieten. Und dennoch finde ich das angelegt in dem Gedicht, das  meine Mutter mir vortrug, das wie ein Kindergedicht klingt und das mich doch durch mein ganzes Leben begleitet hat, bis in meinen Herbst:

Nutz den Frühling Deines Lebens!
Leb den Sommer nicht vergebens
Denn alsbald stehst Du im Herbste
Und der Winter naht – dann sterbste!

 

Vertrauen

Marktzeit in der Stadtkirche St. Marien in Celle am 22. August 2015

Wo ein Mensch Vertrauen gibt,
nicht nur an sich selber denkt,
fällt ein Tropfen von dem Regen,
der aus Wüsten Gärten macht.

Ich begrüße Sie ganz herzlich zur Marktzeit hier in der Kirche Sankt Marien in Celle.
Einen Augenblick innehalten und zuhören und nachdenken.

Wir Christen haben aus der Begegnung mit Gott die Fähigkeit und die Möglichkeit, Vertrauen zu uns selbst und zu unseren Mitmenschen aufzubauen. Wir gehen davon aus und sind uns gewiss, dass Gott uns Menschen vertraut und dass wir ihm vertrauen können. Diese Begegnung mit Gott stärkt uns und gibt uns Vertrauen.

Ich nehme eine große Sehnsucht wahr, nach Vorbildern, nach Orientierung, nach Autoritäten, denen man vertrauen kann.

Gleichzeitig  waren noch nie so viele Informationen verfügbar wie heute, und noch nie konnten so viele Menschen frei sagen und ohne Angst formulieren, was sie für wahr, für richtig und für falsch halten. Jeder hat heute die Möglichkeit, die Wirklichkeit so zu beschreiben und zu konstruieren, dass er damit Machtverhältnisse, vor allem aber Vertrauen erschüttern kann.

Denn alles, was gesagt, behauptet und geschrieben wird, kann  in Frage gestellt und  im Netz überprüft werden und allem kann widersprochen werden. Denn immer wieder können und müssen wir  feststellen, dass eben nicht alles, was gesagt und geschrieben wird stimmt, dass nicht alles mit der eigenen Wahrnehmung der Wirklichkeit übereinstimmt, dass nicht  Ver- sondern Misstrauen angebracht ist.

Und: durch diese Fülle an Informationen und Informationsquellen entstehen allzu leicht Verschwörungstheorien. Einem Verschwörungsgedanken wird  leicht Glauben geschenkt – jedenfalls leichter als der differenzierten Darstellung unserer komplexen Wirklichkeit.

Dieses Misstrauen spüren vor allem Politikerinnen und Politiker. Waren die Wähler und Wählerinnen vormals noch stolz auf ihren Abgeordneten in Bonn, so sieht er oder sie  sich heute eher konfrontiert mit Misstrauen und der Unterstellung es gehe ihm vor allem um Macht und um das eigene Wohlergehen. Verschwörungstheorien und Misstrauen aber sind gefährlich für unser Zusammenleben im Kleinen wie im Großen und auch für unsere Demokratie.

Wo ein Mensch Vertrauen gibt, nicht nur an sich selber denkt,
fällt ein Tropfen von dem Regen, der aus Wüsten Gärten macht.

Oder – wie der Jenaer Pastor Klaus Peter Hertzsch 1989, im Jahr der Friedlichen Revolution, als die Menschen in der DDR das Vertrauen in ihren Staat verloren dichtete

Vertraut den neuen Wegen,  auf die der Herr uns weist,
weil Leben heißt: sich regen, weil Leben wandern heißt.
Seit leuchtend Gottes Bogen am hohen Himmel stand,
sind Menschen ausgezogen in das gelobte Land.
Vertraut den neuen Wegen und wandert in die Zeit!
Gott will, dass ihr ein Segen für seine Erde seid.
Der uns in frühen Zeiten das Leben eingehaucht,
der wird uns dahin leiten, wo er uns will und braucht.
Vertraut den neuen Wegen, auf die uns Gott gesandt !
Er selbst kommt uns entgegen. Die Zukunft ist sein Land.
Wer aufbricht, der kann hoffen in Zeit und Ewigkeit.
Die Tore stehen offen. Das Land ist hell und weit.

II

Für Thomas von Aquin war im 13. Jahrhundert die “Grundlage alles Vertrauens das Vertrauen auf Gott“ – Was Gott tut, das ist wohlgetan.

Fritz Baltruweit hat diesen Gedanken 1983 in Verse gefasst und eine Melodie dazu komponiert.

  1. Vertrauen wagen dürfen wir getrost, denn du, Gott, bist mit uns, dass wir leben.
  2. Unrecht erkennen sollen wir getrost, denn du, Gott, weist uns den Weg einer Umkehr.
  3. Schritte erwägen können wir getrost, denn du, Gott, weist uns den Weg deines Friedens.
  4. Glauben bekennen wollen wir getrost, denn du, Gott, weist uns den Weg deiner Hoffnung.
  5. Vertrauen wagen dürfen wir getrost, denn du, Gott, bist mit uns, dass wir lieben.

Für Niklas Luhmann, den Soziologen  im 20ten Jahrhunderts ist die Grundlage des Vertrauens das Zutrauen in die eigenen Erwartungen. Dieses Vertrauen in sich selbst und in die eigenen Kräfte hat nach seiner Vorstellung in  der sozialen Interaktionen also in der Begegnung der Menschen die Funktion, die Komplexität der Möglichkeiten auf ein Maß zu reduzieren, das den Einzelnen in seiner Umwelt handlungsfähig bleiben lässt.

Beides brauchen wir heute angesichts von Kriegen und nicht abreißenden Flüchtlingsströmen, von Gewalt und Gier und von großen Veränderungen im Kleinen und im Großen: wir brauchen das Vertrauen zu Gott und das Vertrauen in unsere eigenen Stärke und die eigenen Möglichkeiten. Mit diesem Vertrauen können wir Wüsten in Gärten verwandeln:

  1. Wo ein Mensch Vertrauen gibt, nicht nur an sich selber denkt, fällt ein Tropfen von dem Regen, der aus Wüsten Gärten macht.
  2. Wo ein Mensch den andern sieht, nicht nur sich und seine Welt, fällt ein Tropfen von dem Regen, der aus Wüsten Gärten macht.
  3. Wo ein Mensch sich selbst verschenkt und den alten Weg verlässt, fällt ein Tropfen von dem Regen, der aus Wüsten Gärten macht.

Möge es uns gelingen, Vertrauen zu leben, zu geben und in die Welt zu tragen.

Ich wünsche Ihnen ein gesegnetes Wochenende.

Der Andere

Marktzeit in der Stadtkirche St. Marien in Celle am 20. Juni 2015

DER ANDERE             

Joh. Seb. Bach (1685-1750) Toccata d-moll BW 565
Texte/Gedanken
Barbara Dennerlein (*1964) Spiritual movement
Texte/Gedanken
David Timm * 1969) d-m-swing
Holger Brandt, Orgel
Dietmar Herbst, Texte

I

Seien  Sie ganz herzlich willkommen zur Mittagspause hier in der Stadtkirche St. Marien in Celle, zu einer halben Stunde Innehalten, Hören und Nach-denken.

Ich möchte mit Ihnen einen Augenblick über DEN ANDEREN nachdenken und tue dies in Anlehnung an Gedanken von Ryszard  Kapuscinski. Er war Reisender, Journalist und Publizist und schrieb beeindruckende Bücher über seine Reisen in Krisengebiete der Welt.

2004 hielt er in Wien eine Reihe von Vorlesungen zu seinem großen Thema die Begegnung mit dem Anderen.

Die Musikauswahl von Holger Brandt passt sehr gut zu diesem Thema. Die eben gehörte Toccata von Johan Sebastian Bach passt zu unserer Barockorgel. Die Musik von Barbara Dennerlein und David Timm hingegen gehören schon zu „dem Anderen“.

„Die meisten Menschen – so Kapuschinsk vor 11 Jahren – „interessieren sich kaum für die Welt. Die Geschichte kennt Zivilisationen, die keinerlei Interesse für die Welt ringsum aufbrachten.“

Als Beispiel nennt er die Afrikaner, die nie Schiffe gebaut haben, um über die Meere zu segeln und zu sehen, was sich jenseits des Meeres befindet.

Und er verweist auf China, das sich mittels einer großen Mauer von der übrigen Welt abgrenzte.

Die berittenen Imperien eroberten zwar die Welt, jedoch nicht mit dem Ziel, fremde Völker kennenzulernen, sondern sie zu unterjochen.

Europa, meint Kapuscinski, sei eine Ausnahme. Seit seinen griechischen Anfängen waren die Menschen neugierig auf die Welt und hatten den Wunsch, sie nicht nur zu beherrschen und zu dominieren, sondern sie auch kennenzulernen, und sie im besten Falle nicht nur kennenzulernen, sondern auch zu verstehen, sich ihr zu nähern, eine menschliche Gemeinschaft herzustellen.

Natürlich weiß Kapuscinski, dass die Begegnungen der Europäer mit Nichteuropäern  oftmals sehr gewaltsame und blutige Formen annahmen.

Seine Leitfigur bleibt jedoch der Grieche Herodot, der es abgelehnt hat, sich von den Anderen abzugrenzen, ihnen das Tor vor der Nase zuzuschlagen. Die Xenophobie, die Angst vor dem und den Fremden ist –  so Herodot – eine Krankheit der Ängstlichen, eine Krankheit von Menschen, die an Minderwertigkeitskomplexen leiden, die vor dem Gedanken zurück- schrecken, dass sie sich im Spiegel der Kultur der Anderen betrachten müssen.

„Fünf Jahrhunderte lang dominierte Europa die Welt. Es dominierte politisch und wirtschaftlich, aber auch kulturell. Es zwang anderen seinen Glauben auf, setzte Gesetze fest, Wertskalen, Verhaltensregeln, Sprachen.“

Noch immer ist unser Denken eurozentristisch.

„Durch viele Jahrhunderte waren unsere Beziehungen zu den Anderen  asymmetrisch, autoritativ, apodiktisch (unbestreitbar), paternalistisch (bevormundend).

Durch die Neugier und den Verzicht auf diese Bevormundung wurde und wird unsere Welt zu einem offenen, jedenfalls potentiell offenen Raum. Ich glaube, dass sich das entscheidend auf das weitere Schicksal der Menschheit auswirken wird, zumindest in den kommenden Jahrzehnten. Vor allem stellt es unsere Beziehungen zu den Anderen in einen neuen Kontext.

Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte  der Prozess der Entkolonialisierung ein, in dessen Verlauf zwei Drittel der Menschheit, zumindest nominell, den Status freier Bürger und Bürgerinnen erlangten, die sich ihrer Wurzeln und ihrer Kultur neu bewusst werden konnten.

Europa erstarrt in seinem Eurozentrismus, scheint nicht zu bemerken (vielleicht will es das auch gar nicht), dass überall unterschiedliche, nichteuropäische Zivilisationen an Bedeutung, Dynamik und Energie gewinnen und immer nachdrücklicher und energischer einen Platz am Tisch der Welt fordern.

Das stellt eine große Herausforderung für Europa dar. Es muss für uns ist das eine große Herausforderung: wir müssen den Platz am Tisch teilen und uns neu platzieren.“

II

1990 geht der Kalte Krieg zu Ende, endet die Teilung der Welt in zwei gegensätzliche Blöcke, entsteht eine neue Welt, offener, mobiler und vielfältiger als je zuvor. Daraus entstehen viele Chancen und Möglichkeiten.

Vor allem aber rückt der einzelne Mensch in den Blick, sein Recht auf Existenz und Artikulation. Werte wie Identität, Achtung, Wahrnehmung und Wertschätzung des Nächsten – des Anderen gewinnen an Bedeutung.

Ich beziehe das ganz konkret auf unser  Europa, auf unser Land und unsere Stadt – und in der aktuellen Situation auf unseren Umgang mit den Flüchtlingen und den Asylsuchenden, die bei uns Schutz – auch Lebensperpektiven – suchen..

Kapuscinski nennt das „einen Akt der christlichen Hingabe, der Hingabe, der Entsagung und der Demut“.

Wir könnten uns hinter Mauern verschanzen – aber wir können auch den Dialog aufnehmen und die Begegnung wagen.

„Wir alle  sind an allen Orten Andere gegenüber den Anderen – ich gegenüber ihnen, sie mir gegenüber“.

Sind wir in der eigenen Kultur verwurzelt und unserer Eigenheit, unserer Identität bewusst, haben wir gute Voraussetzungen für die Entwicklung unserer Dialogfähigkeit und zur Gestaltung eines friedlichen Zusammenlebens.

Kapuczinki formuliert das so:

„Jedenfalls ist die Welt, auf die wir zusteuern, eine Erde der großen Chance,… die sich nur denen bietet, die ihre Aufgaben ernst nehmen, was sie dadurch beweisen können, dass sie sich selbst ernst nehmen. Es ist eine Welt, die potenziell viel zu geben vermag, aber auch viel von uns verlangt, eine Welt, in der sich bequeme Abkürzungen oft als Sackgassen erweisen.

Wir werden in dieser Welt ständig einem neuen Anderen begegnen, der langsam aus dem Chaos und der Verwirrung der Gegenwart auftaucht. Vielleicht entsteht dieser Andere aus dem Aufeinandertreffen zweier gegensätzlicher Strömungen, die heute die Kultur der Welt prägen – (nämlich) der Globalisierung der Wirklichkeit und der Strömung, … der Bewahrung unserer Verschiedenartigkeit, unserer Unterschiede, unserer Einmaligkeiten. …. Die Erfahrungen meines langjährigen Lebens unter fernen Anderen haben mich gelehrt, dass die freundliche Haltung gegenüber dem Anderen die einzige Möglichkeit ist, in ihm die Saiten des Menschen zum Klingen zu bringen.“

Wer wird dieser neue Andere sein? Wie werden unsere Begegnungen  verlaufen? Was werden wir einander sagen? In welcher Sprache? Werden wir imstande sein, einander zuzuhören? Uns zu verständigen?

Und: Auf was werden wir uns gemeinsam berufen? Was werden wir gemeinsam entwickeln

Ich danke für Ihr Zuhören und  Mitdenken!

Gehen Sie gesegnet in das Wochenende mit dem Wunsch, die freundliche Haltung gegenüber dem Anderen leben zu können.

Abschied vom Ernestinum

Rede anlässlich meines Abschieds vom Ernestinum am 30. Januar 2004

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Freundinnen und Freunde,

In meinem Geburtsjahr 1939 schrieb Brecht sein Gedicht „An die Nachgeborenen“. Die darin gestellten Fragen, was wir denn wohl den nach uns Kommenden mitzuteilen haben, was wir an Rückblicken über uns und unsere gelebte Zeit zu vermitteln haben, beschäftigt mich. Zwei Fragen habe ich mir am Ende meiner Schulzeit am Ernestinum gestellt: Was hat mich geprägt?  Was war mir wichtig, zu vermitteln? Die Antwort sind fünf Themen, die sich im Laufe meines 65jährigen Lebens entwickelten.

  1. Die Auseinandersetzung mit Autorität
  2. Die Auseinandersetzung mit Interaktions- und Rollentheorien
  3. Die Auseinandersetzung mit der Kommunikationslehre
  4. Die Beschäftigung mit dem Enneagramm
  5. Die Anstöße und Anregungen von den Kirchentagen

 1. Autorität

Die Konfrontation mit meinem autoritären Vater, dem vom Nationalsozialismus geprägten Welt- und Menschenbild seiner Generation und auf ihre Amtsautorität pochende Lehrer haben sehr früh meinen (von der Mutter gestützten) Widerstandsgeist geweckt.

Krieg, Niederlage, Flucht und der Zusammenbruch der Wertesysteme  hat meine Generation geprägt und herausgefordert. Wir entwickelten Widerstand gegen alle Autoritäten, gegen einseitige Ideologien, gegen überkommene Werte und Normen.

Der Kant’schen Reinen und Praktischen Vernunft verpflichtet, wollten wir Aufklärung, das heißt die Befreiung des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.

In Frage stellen“, „hinterfragen“, „fragwürdig machen“ wurden zu Leitbegriffen einer Pädagogik, die sich  der Demokratie, der Menschenwürde, der Hilfe für die Schwachen verpflichtet fühlte. Der autoritäre Führungsstil sollte in der Schule dem demokratischen Führungsstil weichen, mit dem Ziel, Kinder und Jugendliche an Prozessen zu beteiligen, sie mit in die Verantwortung zu nehmen. Autorität musste und muss ständig neu erworben werden, durch Kompetenz und Achtung. Das galt für mich bis zuletzt: Autoritäten zu hinterfragen, mich selber in Frage zu stellen und stellen zu lassen, den Schülerinnen und Schülern das Recht einzuräumen, mich zu kritisieren, um so Änderungen gemeinsam zu gestalten und zu leben.

2. Die Interaktions- und Rollentheorie

Neben die Philosophie als Instrument zur intellektuellen Durchdringung demokratischer und gesellschaftlicher Phänomene unserer Gesellschaft trat die Soziologie, die Lehre von den Zusammenhängen und Bedingungen der Gesellschaft.

So entstand das Bewusstsein dafür, dass jeder Mensch in mehreren, oftmals divergierenden Rollen lebt. Als Eltern sind wir zugleich Kinder, als Lehrende auch zugleich Lernende. Wir mussten erkennen, dass wir in unterschiedlichen Rollen, unterschiedliche Bewertungen der gleichen Dinge vornahmen, dass wir selber in Rollenkonflikte verstrickt sind. Wir lernten und lehrten, dass Handeln abhängig von Rollen ist.

Daraus entstand das Ziel, die Selbsterkenntnis zu fördern, sich seiner eigenen Rollen bewusst zu werden und damit in der Begegnung mit anderen effektiver zu sein, Interessen besser durchzusetzen, aber auch Konflikte besser lösen zu können.

Für den Deutschunterricht entstanden daraus neue Ansätze für die Interpretation und das Verständnis literarischer Werke.

Für den Unterricht in Religion und Werte und Normen entwickelte sich daraus die Auseinandersetzung mit der Erziehung zu empathischem Verhalten, d.h. die Fähigkeit, sich in die Rolle anderer zu versetzen. Daraus erwuchs eine neue Form des verantwortlichen Umgangs mit den eigenen Ansprüchen und mit Macht und Autorität.

Und es geht um die Gewinnung einer Identitätsbalance, um das Ausbalancieren zwischen dem Anspruch so zu sein, wie jeder andere, d. h., nicht aufzufallen, sich einem allgemeinen Trend anzupassen, und so zu sein wie kein anderer, d.h. Individualist und gegebenenfalls einsam zu sein. Darüber zu reden, war ein erster Schritt zur Meta-Kommunikation. Damit sind wir beim dritten Schwerpunkt:

3. Die Kommunikationslehre

Als 1969 bei Huber der dunkelrote Band „Menschliche Kommunikation“ von Watzlawick, Beavin und Jackson in deutscher Übersetzung erschien, wurde er sehr bald zum Bestseller der Intellektuellen. Plötzlich waren viele zwischenmenschliche Prozesse erklärbar, die vorher im Dunkel geblieben waren. Watzlawick stellte fest, dass es unmöglich sei, nicht zu kommunizieren, dass es eine komplementäre Kommunikation gibt, d.h. dass sich unterschiedliche Kommunikationspartner ergänzend entsprachen und dass es eine symmetrische Kommunikation gibt, eine Kommunikation zwischen gleichwertigen Partnern. Sensationell war auch die Unterscheidung zwischen Inhalts- und Beziehungsaspekten der Kommunikation.

Mit diesem metakommunikativen Ansatz ließen sich Paradoxien auflösen oder zumindest erklären.

Als 1972 Umberto Ecos „Einführung in die Semiotik“ auf deutsch erschien, wurde Kommunikation als System von Zeichen, mit deren Hilfe wir uns verständigen, definiert. Die Semiotik dient dazu, die Vielschichtigkeit von Deutungen an Beispielen der Kultur zu erläutern.

Die Kommunikationslehre und die Semiotik erweiterten unsere Sicht. Wir wurden befähigt, unser unterrichtliches Handeln neu zu reflektieren und zu kommunizieren.

Kommunikationsstörungen konnten erklärt und gelöst werden – vor allem mit Hilfe von Watzlawicks Feststellung, dass sich bestimmte Konflikte nicht innerhalb eines Systems lösen lassen, sondern nur von außen.

Die Kommunikationslehre war eine echte Bereicherung, vor allem für den Unterricht.

Kunsttheorien sind ohne diese Erkenntnisse nicht mehr denkbar. Die Erziehung zum verantwortlichen Umgang mit den neuen Medien, die die fiktionale und die reale Wirklichkeit beliebig mischen, wird mit Hilfe der Erkenntnisse aus der Kommunikations-Theorie möglich.

Eine Erweiterung unserer Betrachtungs- und Deutungsmöglichkeiten, um Welt und Menschen verstehen und erklären zu können, sehe ich auch im vierten Schwerpunkt, im Enneagramm

4. Das Enneagramm

Das Enneagramm ist eine alte Sufiweisheit, die davon ausgeht, dass es neun Grundmuster menschlichen Verhaltens gibt. Es ist ein Modell, das als offenes System Erklärungen und Möglichkeiten zur Selbsterkenntnis anbietet. Das Nosce te ipsum (Das Erkenne dich selbst) ist ein Philosophem des abendländischen Denkens.

Das Enneagramm ist eine Möglichkeit und Anleitung, mit unseren Anlagen bewusst und verantwortlich umzugehen. Es zeigt uns zugleich, dass wir nur einen Blickwinkel von maximal 120 Grad aus uns selbst abdecken. Wir bedürfen also zum Erfassen eines Problems, eines Menschen, eines Sachverhalts immer der Mithilfe anderer Menschen, anderer Muster.

Selbst wenn der Glaube an die Wahrheit und die Tragfähigkeit des Modells fehlte, bliebe ein Wortfeld von mindestens 168 Wörtern zur Beschreibung des menschlichen Wesens und des menschlichen Verhaltens. Das ist für sich schon ein Gewinn und hilft, Menschen, ihre Fähigkeiten und Abhängigkeiten differenzierter und genauer zu sehen. Das Faszinierende am Enneagramm ist jedoch, dass es ein sich erweiterndes, ein offenes System ist, das nicht festlegt, sondern befreit, zur Selbsterkenntnis und zur Erkenntnis anderer Menschen führt.

Die Frage nach angeborenen und anerzogenen Verhaltensweisen und Eigenschaften und Charaktermerkmalen hat die Menschen schon immer beschäftigt und erhält durch das Enneagramm neue Impulse und Antworten: Ändere, was zu ändern ist, akzeptiere, was sich nicht ändern lässt und lerne, das eine vom anderen zu unterscheiden!

 5. Kirchentage

Ohne die Verankerung im Glauben kann ich mir mitmenschliches Tun, die liebevolle Zuwendung zum Nächsten nicht vorstellen. Die Kirchentage haben im Laufe der Jahre den Glauben als wandlungsbedürftiges und wandlungsfähiges Phänomen sichtbar, fühlbar und erlebbar gemacht.

Die Gewissheit in der Gemeinschaft, Vertrauen wagen zu dürfen, hat sich als gute Basis meines Lebens erwiesen.

Die Auseinandersetzung mit der Theologie der Befreiung, das Nachforschen nach dem Leben in seiner Fülle, wie es Dorothee Sölle 1983 auf dem Weltkirchentag in Vancouver aufgefächert hat, hat geholfen, die Enge eines festgelegten Kanons von Unterrichtsthemen zu erweitern.

Die Diskussion um die Liebesfähigkeit im Spiegel des christlichen Doppelgebots, die Fragen nach der Wirksamkeit der Bergpredigt als Strategiepapier für verantwortliches politisches und privates Handeln, hat zur lebendigen Auseinandersetzung mit Grundfragen des Glaubens geführt.

Ohne Kirchentage und deren breiten Konsens zu Fragen der Friedensfähigkeit und Konfliktfähigkeit anstelle von Friedfertigkeit hätte ich die Auseinandersetzung in der Schule zum Vietnamkrieg, zum Nato-Doppelbeschluss, zur Friedensbewegung nicht führen können.

Der Kirchentag von unten, der dem offiziellen Kirchentagsmotto „Fürchte dich nicht“  die Verhaltensaufforderung „Fürchte dich“ entgegensetzte, hat auch mich geprägt. Sich zu  fürchten vor dem 17-fachen atomaren Overkill, vor dem nuklearen Winter, vor dem verantwortungslosen Umgang mit der Umwelt, vor ungesunder Nahrung und vergiftetem Wasser, kann uns befreien und ermutigen zum Widerstand, zu eigener Verantwortung.

Die Kirchentage haben uns neue Lieder gebracht, neue Umgangsformen erschlossen. Sie waren stärkend für Kirchengemeinden und Schul-gemeinschaften.

Das Motto des kommenden Kirchentages lautet: „Wenn dein Kind dich morgen fragt . . .“. Es macht mich schon jetzt nachdenklich. Welche Fragen werden unsere Kinder uns stellen? Welche Antworten können, welche müssen wir geben? Wie wird es uns mit dem, was wir unseren Nachgeborenen sagen, gehen?

Ich verabschiede mich heute vom Leben in der Schule. Ich bedanke mich für die Herausforderungen der gemeinsamen Jahre und wünsche euch und Ihnen für die Zukunft alles Gute.