Kanzelrede am 18. Mai 2025 in der Stadtkirche St. Marien in Celle

Herr, gib uns Deinen Frieden, gib uns Deinen Frieden, Herr, gib uns Deinen Frieden, Herr, gib uns Deinen Frieden 

Die Älteren unter uns werden sich noch erinnern an Kirchentage, auf denen wir dieses Lied in Endlosschleife gesungen hanem – als Bitte und in der Hoffnung, dass der kalte Krieg beendet werden könnte und die Welt friedlicher werde. 

Sie werden sich erinnern an die Ostermärsche und Demonstrationen der Friedensbewegung in der Alten Bundesrepublik und an das Donna nobis Pacem in der diesjährigen Osternacht zum Geläut der Friedensglocke.

Was aber ist Frieden und welchen Frieden meinen wir?

Ich bin 1939 geboren. 

Den Krieg erlebte ich in Liegnitz, Xanten, Breslau und auf der Flucht mit meiner Mutter und zwei Geschwistern. Das Kriegsende und den neuen Frieden erlebte ich als Flüchtling in Fürstenberg an der Weser – fremd im eigenen Land.

Ich musste keinen Sprachkurs machen, ich hatte die gleiche Hautfarbe wie meine Altersgenossen, dennoch waren wir im Dorf und in der Schule nicht willkommen, wurden gemieden, beschimpft, geschubst und ausgegrenzt. 

Solange, bis ich – entgegen der mütterlichen Maxime „wir schlagen uns nicht“ – den Anführer unserer Quälgeister verprügelte und den Kampf gewann.

Danach war Frieden.

Ich hatte mit Gewalt der Schikane ein Ende gesetzt und einen Platz für mich erobert – und mein einstiger Gegner und Peiniger wurde mein Freund. 

Damals war ich 7 Jahre alt.

In der Schule besprachen wir später die Fabel von Wilhelm Busch:

Ganz unverhofft an einem Hügel  

sind sich begegnet Fuchs und Igel.

„Halt“, rief der Fuchs, „du Bösewicht! 

Kennst Du des Königs Ordre nicht?

Ist nicht der Friede längst verkündigt, 

und weißt du nicht, dass jeder sündigt,

 der immer noch gerüstet geht?

Im Namen seiner Majestät,

geh her und übergib dein Fell!“ 

Der Igel sprach: „Nur nicht so schnell!

Lass Dir erst deine Zähne brechen, 

dann wollen wir uns weitersprechen.“ 

Und alsogleich macht er sich rund, 

schließt seinen dichten Stachelbund 

und trotzt getrost der ganzen Welt, 

bewaffnet, doch als Friedensheld.

Es gibt also verschiedene Formen von Frieden und unterschiedliche Wege dorthin – Gewalt und bewaffnetes Stillhalten z.B.

„Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus“ ist eine Bitte in jedem Gottesdienst.

Soll das heißen, dass der Friede Gottes der menschlichen Vernunft entgegensteht? 

Oder sie überflüssig macht? Daran will ich nicht glauben. Damit will ich mich nicht zufriedengeben. Ich bin zutiefst überzeugt, dass wir uns unserer Vernunft bedienen müssen – und können, um Frieden zu schaffen. Aber ich weiß auch, dass der Wunsch nach und der Wille zur Macht sich oft gegen die Macht des Glaubens und gegen die Vernunft stellt und durchsetzt.

Nach dem 30-jährigen Krieg, in dem die Hälfte der damaligen Bevölkerung in den betroffenen Ländern umkam, haben die beteiligten Herrscher 5 Jahre um einen verbindlichen Frieden verhandelt und das Ergebnis groß gefeiert. 

Der Frieden hat nicht lange gehalten.

Mehr als hundert Jahre nach dem Westfälischen Friedensschluss hat Immanuel Kant seine vielzitierte Schrift Zum ewigen Frieden verfasst. Er baute auf die menschliche Vernunft, die in der Lage ist und sein sollte, ohne Anleitung anderer verantwortlich zu handeln. 

In seinen Maximen fordert er – ganz der Aufklärung geschuldet – die Autonomie von Staaten anzuerkennen, die Freiheit und Rechte der Bürger zu achten und dem Gemeinwohl verpflichtend zu handeln.

Navid Kermani, u.a. Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, hat in einer seiner Reden Aufklärung so definiert:

„Aufklärung … heißt …die eigene Weltanschauung zu relativieren und im eigenen Handeln und Reden immer in Rechnung zu stellen, dass andere die Welt ganz anders sehen: Ich mag an keinen Gott glauben, aber ich nehme Rücksicht darauf, dass andere es tun; uns fehlen – so Kermani – die Möglichkeiten, letztgültig zu beurteilen, wer im Recht ist. Aufklärung ist nicht nur die Herrschaft der Vernunft, sondern zugleich das Einsehen in deren Begrenztheit.“

Das ist die Herausforderung der Gegenwart: die Begrenztheit der (eigenen) Vernunft zu verstehen und anzuerkennen, die Bereitschaft und Fähigkeit, meine Vorstellung von Welt, von Frieden, von richtig und falsch nicht absolut zu setzen – oder, anders ausgedrückt, Demut zu üben und dem Gegenüber Respekt zu zollen.

Noch anders ausgedrückt, es geht darum zu verstehen, verstehen zu wollen, ohne gleichzeitig oder gar automatisch einverstanden zu sein. 

Mein ehemaliger Chef Rainer Eppelmann hat es als Abrüstungsminister der DDR so formuliert: 

„Ich muss mich jeden Morgen in die Schuhe meines Gegners stellen, um mit ihm erfolgreich verhandeln zu können“.

Er hat dem russischen Präsidenten Gorbatschow eine Friedenskerze überreicht und damit nicht nur seine friedliche Absicht demonstriert, sondern auch seine Bereitschaft, die Opfer der Sowjetunion im 2. Weltkrieg anzuerkennen und nicht nur die Unterdrückung der Nachkriegszeit zu sehen.

So konnte er auch anlässlich der Gedenkfeier und Parade zum 9. Mai 1990 glaubhaft vermitteln, dass er nicht als Entwaffnungsminister – wie der russische Dolmetscher übersetzte – sondern als Abrüstungsminister und mit dem Willen zur Versöhnung gekommen ist. 

Damit hatten die ehemaligen und damaligen Gegner und Feinde nicht gerechnet.

Wir glaubten damals beide an die Möglichkeit friedlicher Lösungen, und wir kämpften dafür, die Einigung Deutschlands zu verbinden mit der Schaffung einer europäischen Sicherheitskonzeption, um den Kalten Krieges dauerhaft zu beenden und einen langfristigen Frieden zu sichern.

Es ist uns nicht gelungen.

Wir müssen uns erinnern – daran, woher wir kommen, was hinter uns liegt, auch an das, was uns beschwert, damit wir Fehler nicht wiederholen, damit wir Verantwortung übernehmen und Frieden – vor allem auch im Inneren gestalten können.

Für meine Eltern war das Kriegsende eine große Niederlage und die nachfolgende Entnazifizierung ein belastender Prozess. Die Weltsicht der Sieger, ihre Ideologie und ihre Kultur war ihnen nicht nur fremd, sie lehnten sie ab.

Erst allmählich wurde auch für sie aus Negermusik Jazz, wurden aus Besatzern Verbündete und Freunde, erst allmählich haben sie die Idee der jungen Demokratie, das dahinter liegende Welt- und Menschenbild verstanden und waren schließlich damit einverstanden. Und erst allmählich konnten sie ihr Selbst-Bewusstsein, ihre Identität mit der neuen Zeit, den neuen Ideen und Anforderungen in Einklang bringen.

Ich habe daraus gelernt, dass wir unsere Vergangenheit – die eigene und die gemeinsame – nicht verdrängen können und nicht verdrängen dürfen. Wir dürfen sie nicht abspalten, damit wir daraus selbst-bewusst, mit uns im Einklang und identisch unsere Schlüsse für die Gegenwart ziehen und verantwortlich handeln können.

Ich habe aber auch immer wieder erfahren, wie schwierig das ist. 

So z.B. als ich als Schüler kommunistischer Umtriebe bezichtigt wurde, weil ich darauf verzichten wollte, die Polen aus dem Haus meiner Eltern in Schlesien zu vertreiben.

1948 unterschrieben 48 Staaten die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Der erste Artikel lautet: 

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.

Im zweiten geht es um das Verbot der Diskriminierung…, nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand..

Diese Deklaration sollte als Grundlage einer allgemeinen Friedensordnung für die Welt dienen.

1963 wurde in Bonn der Deutsche Entwicklungsdienst (DED) unter dem Motto „Lernen und Helfen in Übersee“ gegründet. Anwesend waren Bundeskanzler Adenauer, Bundespräsident Lübke und der amerikanische Präsident Kennedy. 

Wir waren uns damals einig, dass wir erst lernen und dann helfen wollten. Und wir gingen davon aus, dass, wenn es uns nicht gelingt, die sogenannte Dritte Welt von unseren Werten zu überzeugen, würden der Fortschritt und der Lebensstandard unserer ersten Welt keinen Bestand haben, und es würden Flüchtlingsströme den Frieden im Innern und in der Welt gefährden.

Ziemlich bald haben wir in der Vorbereitung unserer Einsätze erkannt, dass unsere westlichen Werte und unser Normensystem nicht nur hilfreich, sondern auch zerstörerisch sein können.

Der chinesische Präsidenten Zhou Enlai hat es 1971 auf den Punkt gebracht, als er den amerikanischen Präsidenten Nixon fragte:

„Wieso meinen Sie, ihre Werte, würden in einer Kultur funktionieren, die Sie nicht verstehen?

Heute müssen wir selbstkritisch zur Kenntnis nehmen, dass der Jahrhunderte lange missionarische Feldzug des Westens in der asiatischen, afrikanischen und südamerikanischen Welt zu vielen Demütigungen, Verwerfungen und Misstrauen geführt hat. 

Die Saat geht heute auf. 

Wir erleben Terror und kriegerische Auseinandersetzungen, endlose Flüchtlingsströme und endloses Leid.  Und Überforderung.

Auch die insgesamt 20 Artikel der Deklaration der Menschenrechte, deren Anwendung den inneren und äußeren Frieden stärken sollten, haben ihr Ziel nicht erreicht. Noch immer sind sie nicht verbindlich und nicht von der gesamten Staatengemeinschaft anerkannt. Noch immer stehen Partikularinteressen, unversöhnliche Weltsichten und konkurrierende Menschenbilder der Verbindlichkeit und der Umsetzung im Wege. 

Es scheint mir aber auch die Bereitschaft, verstehen zu wollen, zu fehlen.

Deshalb hier noch einmal Kermani: 

„Heute muss die Antwort auf den Terror, eine andere, im besten Sinne aufklärerische sein: nicht weniger, sondern mehr Freiheit! Nicht Ausgrenzung, sondern gerade jetzt Gleichheit! Und vor allem: nicht Feindschaft, sondern Brüderlichkeit.“ 

Ursprung und Vollendung des Friedens sind (…)  für menschliches Handeln unverfügbar,  aber keineswegs bedeutungslos. 

Heißt es in einer Denkschrift der EKD von 2007

Das bedeutet: Die Vollendung der Welt in Gerechtigkeit und Frieden sind Kennzeichen des Reiches Gottes, nicht einer politischen Ordnung. 

Woher oder wo finden wir die Ermutigung, die Unterstützung und die Kraft, Gleichheit zu denken und Brüderlichkeit zu leben? Die Ermutigung, die Unterstützung und die Kraft, aus der Erinnerung zu lernen, um vergangene Fehler nicht zu wiederholen, Feindbilder abzubauen und die Fähigkeit zu entwickeln, die Zukunft für alle friedvoll zu gestalten? 

Ich habe sie immer wieder in der Evangelischen Akademie in Loccum erfahren.

Dort bin ich Soldaten begegnet, die verantwortungsbewusst ihre Aufgabe wahrnehmen, die differenziert die daraus entstehenden persönlichen und gesellschaftlichen Konflikte bedenken und gestalten. Die sich als Bürger in Uniform sehen, dem Grundgesetz und dem Frieden verpflichtet. Von ihnen lernte ich, dass, wer den Frieden will, sich mit dem Krieg beschäftigen muss. Das heißt auch, sich in die Schuhe des Gegenübers zu stellen, ihn verstehen zu wollen – auch wenn man mit seinen Positionen nicht einverstanden ist.

Prägend waren für mich auch Arbeitseinsätze in Auschwitz, die das Religionspädagogische Institut durchführte und Begegnungen und Seminare in Bergen Belsen sowie Reisen in den ehemaligen Ostblock. 

In der Auseinandersetzung mit unserer Geschichte und mit vielfältiger Anderheit entstanden Verstehen und Verständigung.

Auch in der Kirche, in der Gemeinschaft der Gläubigen, können wir Ermutigung und Kraft finden. In einer Gemeinschaft, die weiß und glaubt, dass der Friede Gottes höher ist als alle Vernunft. In der ein hoher Militär Mitglied der Synode sein kann. In einer Gemeinschaft, die Veränderung zulässt, die scheinbar gesicherte Positionen immer wieder in Frage stellt und neue tragfähige Antworten sucht. In einer Gemeinschaft, die weiß, dass vor Gott alle Menschen gleich sind, die Vielfalt ermöglicht und lebt, deren Glieder zuhören wollen und können, für die Verstehen wollen und Respekt üben keine leeren Worte sind. In einer Gemeinschaft, die dennoch nicht mit allem einverstanden ist und dies auch deutlich sagt und sich öffentlich positioniert. 

In dieser Gemeinschaft kann sich Friedensfähigkeit entwickeln und kann Frieden entstehen.

Unser Land, unsere demokratische Ordnung ist abhängig von solchen Gemeinschaften. Und es ist abhängig von einer offenen Öffentlichkeit, in der Meinungs- und Willensbildungsprozesse ohne Angst und Sprechverbote stattfinden können, in denen wir, Bürger und Bürgerinnen, Gläubige und Ungläubige, Farbige und Weiße, Alte und Junge verhandeln können, was und wie wir leben wollen. 

Unser Land braucht diese Diskurse und Auseinandersetzungen, braucht diskursive Strukturen, mit denen wir das Handeln der Regierung reflektieren und potenziell auch korrigieren, in dem wir so den inneren Frieden ermöglichen und gestalten können.

Wir leben in schwierigen Zeiten. Dazu gehört auch die traurige Wahrheit, dass Kriege keine politischen Betriebsunfälle sind, sondern immer Ausdruck von Machtstreben, auch von Überheblichkeit – und leider ein grauenvolles historisches Kontinuum. 

Carsten Breuer, Deutschlands oberster General, sagte vor ein paar Tagen : 

„Ich glaube, es war in den 40 Jahren, in denen ich Soldat bin, noch nie so bedrohlich wie jetzt gerade.“ 

Sich dies einzugestehen, ist so bitter wie notwendig.

Wer angesichts dieser Lagebeschreibung – im Innern und im Äußeren – und im Spiegel des Scheiterns der friedenspolitischen Bemühungen von 1990 an einer Lösung im Sinne der Fabel vom Fuchs und Igel festhalten will, muss klären, welches Stachelkleid wir brauchen, aber auch welches wir anzuziehen bereit sind und was wir dafür einsetzen wollen. 

Verteidigung statt Angriff.

Es gibt eine merkwürdige Dialektik zwischen Macht und Ohnmacht.  Oft greifen die Mächtigen zur Stabilisierung ihrer Macht zu Mitteln, die gerade das Gegenteil provozieren, die dem Ohnmächtigen, vor dem sie schließlich angstvoll zu zittern beginnen, Kraft und große Souveränität verleiht. 

Wir erinnern uns an die friedlichen Montagsdemonstrationen, die zum Fall der Mauer führten.

Der Glaube kann unendlich viel leisten und hat viel geleistet.

Gläubige Menschen, religiöse Gruppen und Religionsgemeinschaften können nachhaltig für Frieden, soziale Gerechtigkeit, Gewaltlosigkeit und Nächstenliebe in der Welt eintreten. 

Sie können Grundhaltungen wie Friedensfähigkeit, Machtverzicht und Toleranz propagieren und aktivieren.

Der Philosoph Pinchas Lapide, formuliert fünft Tugenden zur Anbahnung eines friedvollen und friedensfähigen Miteinanders, 

die ich an den Schluss stelle:

1.    Konfliktfähigkeit – ohne Abbruch von Brücken, um gewaltlos Kontroversen zu bewältigen

2.    Dialogbereitschaft – in allen Bereichen der Gesellschaft, von der Religion bis in die Politik

3.    Kompromisswille und Kompromissfähigkeit- mit uns selbst zuerst  -und mit dem Gegner 

4.    Einfühlsamkeit – in Kopf und Herz der Kontrahenten, deren Schmerzgrenze nicht überschritten werden darf.

5.    Geduld – ganz im Sinne jenes Rabbis, der da sagte: : Jede Streitfrage hat, zutiefst gesehen, drei Seiten: deine Seite – meine Seite – und die richtige Seite

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne on Jesus Christus. Amen.

Berichte in der Presse:

Tag der Deutschen Einheit

Als ehemaliger Berater des Ministers für Abrüstung und Verteidigung der DDR Rainer Eppelmann. Gehalten in einer Festveranstaltung der Gemeinschaft der Vielen und des Celler Schlosstheater in der CD-Kaserne in Celle. Die von mir ausgesuchten Anlagetexte wurden von Schauspielern des Schlosstheaters vorgetragen.

Zum 3. Oktober 2019

Wenn ich mich an den 3. Oktober 1990 als den Tag der Deutschen Einheit erinnere, dann kann ich das nicht losgelöst von den Ereignissen im Herbst 1989 tun, an die friedliche Revolution mit der Demonstration in Leipzig, an den Tag der Maueröffnung am 9. November, an die 168 Tage wirklich demokratischer DDR.

Um die Vereinigung als Teil eines geschichtlichen Prozesses zu verstehen, der mit der Selbstauflösung eines diktatorischen Staates mitsamt seiner bedrohlichen Armee begann und bis heute nicht wirklich abgeschlossen ist, müssen wir uns an die Situation von vor 30 Jahren erinnern.

Am 17. Juni 1989 – damals als „Tag der Deutschen Einheit“ in Erinnerung an den Aufstand von 1953 in Ostberlin ein Feiertag – sprach Erhard Eppler vor dem Deutschen Bundestag in Bonn:

Ich freue mich, dass ich vor Ihnen zu dem Thema sprechen darf, das mich vor vier Jahrzehnten in die Politik getrieben hat, das über Nacht wieder drängender, brisanter geworden ist und uns mehr denn je verbindliches Reden abverlangt. Wir hören schrille Töne aus Ländern, denen wir uns freundschaftlich verbunden wissen. Verwundert und verwirrt sehen wir uns mit Angstträumen konfrontiert, die mit unseren Hoffnungen nichts zu tun haben. Ein Gesamtdeutschland, dem Westen abgewandt, der europäischen Bindung müde, im Bunde mit der Sowjetunion auf dem Wege zur ökonomischen Hegemonie in Zentral- und Osteuropa, ein Viertes Reich aus der Asche der NATO erstehend — solche Befürchtungen sind offenbar auf einem anderen Stern angesiedelt als unsere Hoffnungen.

Die Ängste vor einem erstarkenden Gesamtdeutschland waren in Ost und West gleichermaßen virulent. Reibungslos verlief die Zustimmung zur Vereinigung am 3. Oktober 1990 nicht.

Und ohne die Demokratisierungsprozesse in Polen, Ungarn, der CSSR und im Baltikum wäre das Ende der DDR und damit die Vereinigung der beiden deutschen Staaten, die wir heute feiern, nicht möglich gewesen.

In den Bürgerrechtsgruppen, die im Herbst 1989 für Reisefreiheit, Gerechtigkeit, Redefreiheit, Demokratie und allgemeine Menschenrechte demonstrierten, stand die Abschaffung der DDR nicht auf dem Programm. Man wollte einen demokratischen Sozialismus verwirklichen.

Es gab vielmehr Überlegungen für eine Föderation oder einen Bundesstaat, vor allem aber die Idee ein neues europäisches Sicherheitssystem zu entwickeln. Und soweit die Opposition und Bürgerrechtler außenpolitische Aspekte überhaupt berücksichtigten, hielten sie Frieden, Abrüstung und Entmilitarisierung immer für wichtiger als die Einheit der Nation.

Auch diejenigen, die im Sommer 1989 mit ihrer Ausreise über Ungarn die Auflösung des Staates beförderten, gingen davon aus, dass die DDR weiter existieren würde. Sie gaben Wohnung, Arbeitsplatz und Freunde auf und machten sich von Prag oder Budapest aus auf den Weg ins Ungewisse. Es waren also gerade diejenigen, die nicht an das Ende des Systems glauben wollten, die den Zusammenbruch beschleunigten.

Und auch auf der großen Demonstration auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989 forderten die Teilnehmer*innen weder in Reden, noch in Sprechchören und auch nicht auf den Spruchbändern und Plakaten das »einige deutsche Vaterland«.

Dennoch verbinden wir die Erinnerung an den Herbst 1989 mit den beiden Losungen: „Wir sind das Volk“ und „Wir sind ein Volk“.

Bei genauem Hinsehen- bzw. Hinhören ist unter „Volk“ jeweils Verschiedenes verstanden worden:

„Wir sind das Volk“ riefen die Demonstrant*innen vom 9. Oktober den Sicherheitskräften und damit den Herrschenden entgegen.

Und zeitgleich stand auf einem Flugblatt von Pfarrer Wonneberger, das sich an die Sicherheitskräfte richtete: „… reagiert auf Friedfertigkeit nicht mit Gewalt. Wir sind ein Volk. Gewalt unter uns hinterlässt ewig blutende Wunden.“ Wonneberger appellierte also an das Verbindende über den Graben der Konfrontation hinweg.

Ab wann der Satz „Wir sind ein Volk“ als Forderung nach der deutschen Einheit gemeint war und skandiert wurde, ist strittig. Es war jedenfalls nicht vor dem Fall der Mauer.

Die Stasi notiert diese Losung für den 13. November. Massenhaft verbreitete sie sich vor allem durch Aufkleber und Plakate, die die West-CDU zum Jahreswechsel verbreitete.

Am 19. Dezember 1989 – anlässlich der öffentlichen Begegnung von Kohl und Modrow – schwenkten die Dresdner Bürger*innen auf dem Theaterplatz schwarz-rot-goldene Fahnen ohne Hammer, Zirkel und Ährenkranz sowie die grün-weiße Fahne Sachsens und skandierten im Chor die bekannte Zeile aus der Nationalhymne der DDR „Deutschland einig Vaterland“.

Die „Friedliche Revolution“ fand ohne Smartphones und ohne Handys statt. Die Demonstrant*innen waren sich immer bewusst, dass sie von der Stasi beobachtet und observiert wurden, dass sie riskierten, festgenommen und verhört zu werden.

Jeder und jede, die sich an der Revolte beteiligten, gingen ein hohes Risiko ein.

Ab Sommer 1988 hatte ich als Sprecher eines Arbeitskreises „Liberalismus und Kirche“ der FDP Niedersachsen regelmäßigen Kontakt mit Bürgerrechtler*innen in der Samaritergemeinde in Ostberlin. Wir dachten gemeinsam nach über die Möglichkeiten demokratischer Teilhabe, über die Stärkung und Entwicklung von  Freiheits- und  Bürgerechten in der DDR, sowie über die Sicherung des  Friedens in der damaligen Zeit der Hochrüstung der militärischen Blöcke und suchten nach Möglichkeiten der konkreten Umsetzung. Wir diskutierten Konzepte für das „Gemeinsame Haus Europa“ und länderübergreifenden europäischen Umweltschutz

Zu dem Kreis gehörten – um nur einige zu nennen – Rainer Eppelmann, Bärbel Bohley und Hans Peter Schneider.

Rainer Eppelmann hat gestern das große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland für seine bis heute andauernden Bemühungen für den deutschen Einigungsprozess erhalten.

Ein Jahr lang arbeiteten wir an einer gemeinsamen Erklärung zum 50. Jahrestag des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf Polen. Wenige Tage vor der Maueröffnung haben wir sie veröffentlicht. Obwohl die Stasi mehrere Informelle Mitarbeiter in unsere Gruppe platziert hatte, gab es von dieser Seite keine Restriktionen.

1989 wird Rainer Eppelmanns Mitglied des sogenannten Runden Tisches. Er wird zum Minister ohne Geschäftsbereich in der Regierung Modrow berufen. Aus Sicht der ehemaligen Mitstreiter*innen gehört er nun zu den Mächtigen, ein Teil der Freunde zieht sich zurück.

Schon als er den „Demokratischen Aufbruch“ als Partei gegründet hat, distanziert sich Bärbel Bohley von ihm, sie will der Bewegung „Neues Forum“ weiterarbeiten. NF – auch das Kürzel der Nationalen Front – wird Zeichen des Neuen Forums.

Im März 1990 finden die ersten demokratischen, freien und geheimen Wahlen in der DDR statt. Rainer Eppelmann wird in der Regierung de Maiziere Minister für Abrüstung und Verteidigung. Er beruft mich zum Leiter seines Beraterstabs, zu dem ab Juni 1990 auch Egon Bahr zählt.

Der 3. Oktober ist für mich nicht ohne den 23.August zu denken. Am 23. August hat die Volkskammer nachts um kurz vor 3 Uhr beschlossen, am 3. Oktober die Vereinigung zu vollziehen. Der Bericht über diese Volkskammersitzung im Tagesspiegel (siehe Anlage) liest sich heute noch spannend, und noch einmal neu im Spiegel des aktuellen Geschehens in London.

Ebenso der anliegende Text von Patrick Süßkind im Spiegel.

Die in diesen beiden Artikeln – beispielhaft – benannte Ambivalenz ist heute noch spürbar und führt immer wieder zu konfrontativen Auseinander-setzungen, zu Diskussionen um Schuld und Verstrickung um Stolz auf geleistete Hilfe und Beschämung durch vermeintliche Missachtung.

Am heutigen Feiertag zur Deutschen Einheit ist mir wichtig, daran zu denken und zu erinnern, dass

  • Die deutsche Einheit nur gelingen konnte, weil es keine Großmachtallüren und keinen Nationalismus gegeben hat.
  • Die Vier Siegermächte des zweiten Weltkrieges der Vereinigung zugestimmt haben.
  • Die deutsche Vereinigung nur möglich war, weil die Warschauer Paktstaaten Polen, Ungarn, CSSR und das Baltikum ihr Lösung von der UdSSR bereits betrieben und teilweise schon durchgesetzt hatten.
  • Der deutsche Einigungsprozess friedlich verlaufen ist und ist trotz vieler problematischer Entwicklungen insgesamt zufriedenstellend verlaufen ist.

In den vergangenen dreißig Jahren sind fast 2 Billionen Euro in den Aufbau Ost investiert worden – auch finanziert mit dem Solidaritätsbeitrag aller deutschen Bürgerinnen und Bürger aus West- und Ostdeutschland. Die Infrastruktur ist deutlich verbessert und oftmals besser als im Westen. Die blühenden Landschaften, von denen Bundeskanzler Kohl im Wahlkampf 1990 gesprochen hatte, sind sichtbar – wenngleich nicht überall. Die Hochschulen haben einen guten Standard, einen guten Ruf und guten Zulauf.

Der Tourismus boomt, die Altstädte sind weitgehend saniert und werden von Bürgern und Touristen angenommen. Auch wenn die Treuhand Fehler gemacht hat, so ist doch die Aufbauleistung im Wesentlichen gelungen. Die Rechtsstaatlichkeit ist umgesetzt, das Sozialsystem funktioniert.

Aus eigener Anschauung und Mitwirkung am Einigungsprozess kann ich feststellen, dass wir keine Vorgaben hatten, dass wir an einem Punkt Null anfangen mussten und dass alle Beteiligten in Ost und West mit großem Elan, mit viel Einsatz, großer Anstrengung und auch  mit Phantasie den Prozess gestaltet haben.

3 Millionen qualifizierte Kräfte sind aus dem Osten in den Westen abgewandert. Aber auch mehr als eine Million Bürger*innen aus dem Westen sind in den Osten umgesiedelt, um Neues zu wagen und Veränderung (mit)zu gestalten. Nicht alle hatten an ihrem neuen Ort Erfolg.

Wir sollten uns heute – auch wenn uns Frust und Ungeduld entgegenkommt, die enormen Leistungen wertschätzen, die Menschen auf beiden Seiten und allen Ebenen erbracht haben. Innerhalb von Monaten mussten sich die Wertesysteme, die Welt- und Menschenbilder wandelt und sie haben es getan. Nicht alle konnten das Tempo mithalten, nicht allen ist die Veränderung gelungen und mancher wollte sie auch nicht und mancher ist nachvollziehbar enttäuscht.

Ich wünsche mir, dass wir diesen heutigen Tag nutzen, um uns zu vergewissern und uns bewusst zu machen, dass diese Vereinigung ein Glücksfall war und ist – aber auch, dass es noch viel zu tun gibt.

ANLAGE 1

DER TAGESSPIEGEL, Freitag, 24. August 1990

Nächtliche Jubelszenen in der Volkskammer

Um 2 Uhr 50 fiel die Entscheidung über den DDR-Beitritt am 3. Oktober

Von unserem Korrespondenten

Gz. Berlin. Es war 2 Uhr 50 an diesem denkwürdigen 23. August 1990, als Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl dem Hohen Hause sagte, diesmal bereite es ihr Vergnügen, das Abstimmungsergebnis mitzuteilen: 294 Ja-Stimmen, 62 Nein-Stimmen, sieben Enthaltungen, keine ungültigen Stimmen. Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik auf Grund des Artikels 23 des Grundgesetzes war damit zum 3. Oktober mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit, für die 267 Stimmen ausgereicht hätten, erklärt.

Freudenszenen spielten sich auch bei den Abgeordneten und den Regierungsmitgliedern ab. Die meisten standen auf und applaudierten, die einen sichtlich bewegt, andere in nie zuvor erlebter Fröhlichkeit. Auch Ministerpräsident Lothar de Maiziere, der das Parlament durch einen erst am Abend gegen 19 Uhr gestellten Antrag auf Einberufung einer Sondersitzung vor die Notwendigkeit einer sofortigen Entscheidung gestellt hatte, wirkte gelöst. Der Druck des Beitrittsproblems war gewichen, der Fahrplan zur deutschen Einheit klar. Alles wird schneller geschehen, als man- es noch vor Tagen oder Wochen auch nur zu denken gewagt hatte.

Es hatte ja in der Luft gelegen, dass der Termin endlich festgemacht werden musste nach dem langen Gerangel und Gezerre, das nicht immer rationalem Problemverständnis, sondern allzu oft einem Bedürfnis nach parteitaktisch erwünschten populistischen Effekten entsprang. Dass de Maiziere entschlossen war, diesen Konflikt zu beenden, hatte er den Fraktionsvorsitzenden bei dem Treffen tags zuvor klargemacht, bei dem man sich auf den 14. Oktober verständigte — auf einen Kompromiss, der nur wenige Stunden hielt, weil die SPD nicht ihrem Fraktionsvorsitzenden Schröder folgte, der daraufhin zurücktrat.

Aber in der Parlamentssitzung, die um 16 Uhr begann und die das Ende der nach Ansicht vieler Politiker und Beobachter zu langen Sommerpause bedeutete, stand nur das gesamtdeutsche Wahlgesetz auf der Tagesordnung. Dass es — anders als in der blamablen Sondersitzung am 8. August — diesmal die Zweidrittelmehrheit fand, hatte Schadensbegrenzung und einen Rückgewinn an Reputation für das Parlament bedeutet. Erst als dieser Punkt abgehakt war, beantragte de Maiziere, der während der Sitzung ständig an einem Manuskript gearbeitet hatte, die sofortige Einberufung einer Sondersitzung zur Entscheidung über den Beitrittstermin.

Unterschiedliche Sachverhalte

Es war klar, dass dem Antrag nach der Geschäftsordnung stattgegeben werden musste. Als die zweite Sitzung an diesem Tage gegen 21 Uhr von Vizepräsident Reinhard Höppner eröffnet wurde, lagen zwei Anträge zu diesem Thema vor, die erkennen ließen, wie weit die Parteien noch voneinander entfernt waren. Die DSU, die schon am 17.- Juni einen-Antrag auf sofortigen- Beitritt gestellt hatte,- wiederholte ihn, nur mit der Fortschreibung des Datums auf den 22. August. Und eine Gruppe von mehr als 20 Abgeordneten aus der Fraktion CDU/Demokratischer Aufbruch forderte eine Festlegung, am 9. Oktober den Beitritt für den 14. Oktober, 24 Uhr, zu beschließen, also für das Ende des Tages, an dem die Landtagswahlen in der bisherigen DDR stattfinden werden.

Hier ging es nicht nur um unterschiedliche terminliche und politische Vorstellungen, sondern auch — der PDS-Vorsitzende Gregor Gysi machte darauf aufmerksam, wenngleich es Höppner längst wusste — um unterschiedlich zu bewertende Sachverhalte. Was die DSU verlangte, war ein konstitutiver Akt, der also eine Zweidrittelmehrheit erfordert hätte. Hingegen lief der Antrag aus der CDU/DA auf einen Beschluss, etwas erst später endgültig zu beschließen, hinaus. Dafür hätte die einfache Mehrheit genügt. Aber die Frage wäre damit nicht, wie es ja auch de Maiziere auf seine Weise wollte, verbindlich entschieden gewesen. Der Konflikt, den sich die DDR nicht leisten konnte, wäre weitergegangen.

Dass es eine lange Nacht wurde, lag weniger an den Reden als an den zahlreichen Beratungspausen und den zeitraubenden namentlichen Abstimmungen. Während im Plenum oft Leere und Müdigkeit herrschte, wurde in allerlei Gremien diskutiert und zur Probe abgestimmt. Das eigentliche Problem war, dass man eine sofortige verpflichtende Entscheidung noch in dieser Nacht wollte, die Zweidrittelmehrheit aber erst zusammengezimmert werden musste.

Dennoch war es der wohl beste Debattentag dieser am 18. März demokratisch gewählten Volkskammer. Nicht nur, dass die meisten Redebeiträge von staatspolitischer Perspektive zeugten: Endlich einmal waren sie nicht platte Statements, sondern dienten dem Dialog, der Erarbeitung der Mehrheit.

De Maiziere nannte seine Maßstäbe: Man brauche ein Ende der Diskussion, müsse geordnet in die deutsche Einheit gehen und sich der Geschichtlichkeit des Vorganges bewusst sein. Die täglichen Sorgen der Bürger dürften nicht solchen Diskussionen untergeordnet werden. Es gebe Aufgaben, die nur wir erfüllen können“. Darum, sagte er, den DSU-Antrag verwerfend, werde er seinen Auftrag erst als erledigt betrachten, wenn er alles ihm Obliegende auch getan habe. Und dann versöhnlich: Man müsse „die Sache über die Taktik stellen“, und er meine, dass „wir alle dasselbe wollen, nämlich das Beste für unsere Bürger“.

Jürgen Schwarz von der DSU sah das anders. Jeder Tag des Wartens koste Millionen und behindere unumgängliche Entscheidungen. Die Menschen brauchten einen klaren Weg; das ‚bankrotte Unternehmen DDR‘ müsse beendet werden. Die Partner bei den Zwei-plus-Vier-Gesprächen würden das schon- hinnehmen.

Günter: Krause von der CDU, der als Parlamentarischer Staatssekretär die Verhandlungen mit Bonn über den Einigungsvertrag führt, konterte hart: Ein Einigungsvertrag mit 900 Seiten bringe den DDR-Bürgern mehr Sicherheit als ein ungeregelter Beitritt. Auch müsse Deutschland außenpolitisch berechenbar bleiben. Wenn die KSZE-Staaten schon damit einverstanden seien, das Verhandlungsergebnis nicht erst auf dem Gipfeltreffen im November, sondern schon auf der New Yorker Außenministerkonferenz am 1. und 2. Oktober entgegenzunehmen, dann müsse man wenigstens diesen Termin respektieren, und dann sei der frühestmögliche Beitrittstag der 3. Oktober.

Den Sozialdemokraten und anderen, denen die Länderbildung am 14. Oktober als weitere unerlässliche Voraussetzung erschien, suchte Krause eine Brücke zu bauen. Der Einigungsvertrag werde Anpassungs- und Übergangsbestimmungen enthalten, die einen früheren Beitritt möglich machen würden, etwa die Einsetzung von Länderbeauftragten, die bis zur Wahl der Länderregierungen fungieren würden, beratende Stimmen im Bundesrat und volles Stimmrecht im Bundestag.

Wolfgang Thierse, SPD-Vorsitzender und gerade auch Fraktionschef geworden, brachte wieder den 15. September ins Spiel, drei Tage nach Abschluss der Zwei-plus-Vier-Gespräche. Den Beitritt wollte er noch nicht an diesem Abend beschließen: Die Festlegung auf den Beitritt dürfe „uns nicht auf den Einigungsvertrag festlegen“. Aber wenn man über diesen befunden habe, müsse die „dramatisch sich zuspitzende Wirtschaftssituation“ das Handeln bestimmen.

Gysi ging das alles zu schnell: Man solle nur den Beschlusstag festlegen und nicht die Illusion schüren, dass allein schon der Beitritt die ungelösten Probleme lösen könne. Und zu den vielen Terminvorschlägen: „Ich kann diese Motive nicht mehr nachvollziehen,“

Rainer Ortleb von der FDP hingegen wollte die sofortige Entscheidung, sah aber das Problem: Wo findet sich die Zweidrittelmehrheit? Es war etwa Mitternacht, als er sagte, man müsse vermitteln, die Stimmungen richtig bewerten. Wieder gab es Unterbrechungen. Dann wurde abgestimmt. Der DSU-Antrag verfiel um 0 Uhr 45 der Ablehnung (56 Ja-Stimmen, 183 Nein-Stimmen, 125 Enthaltungen). Nachdem auch einige andere Anträge abgelehnt worden waren, wurden die Diskussionen innerhalb der DSU-Fraktion erregt.

Dann bahnt sich ein Umdenken an. Jens Reich vom Bündnis 90/Grüne sieht keine „vermittelnde Formulierung“ zwischen sofortigem Beitritt und der Erfüllung von Bedingungen. „Wir können nur Ja oder Nein sagen.“ Das meint auch Gysi, der „der Regierung nicht jeden Spielraum nehmen“, also abwarten will. Dann bringt es Thierse auf den Punkt: Die DDR könne doch nicht damit drohen, der Bundesrepublik nicht beizutreten. Im. übrigen: „Wir fallen doch nicht, unter die Räuber.“ Nun räumt auch Schwarz von der DSU Kompromissbereitschaft ein, und Ortleb meint: „Wir sollten zum Schluss finden.“

Gysis sentimentalen Töne

Der besteht in einem gemeinsamen Antrag von CDU, DSU, FDP und SPD, sofort und verbindlich den Beitritt zum 3. Oktober zu beschließen. Die Auszählung der Stimmzettel dauert eine gute Stunde. Dann die Bekanntgabe des historischen Ergebnisses. Frau Bergmann-Pohl bemerkt dazu: „Ich glaube, das ist ein wirklich historisches Ereignis. Ich danke allen, die es im überparteilichen Konsens ermöglicht haben.“

Es gibt noch zwei persönliche Erklärungen. Gysi schlägt sentimentale Töne an und bedauert den Beschluss über den „Untergang der DDR“, der daraufhin von der Mehrheit laut beklatscht‘ wird. Und Verkehrsminister Horst Gibtner, um Mitternacht 50 Jahre alt geworden, äußert Freude über dieses „große Geschenk“ und hofft nun auf konstruktive Arbeit, „wie unsere Wähler das von uns erwarten“.

Um 2 Uhr 57 ist alles gesagt und getan.

ANLAGE 2

Die Ambivalenz zwischen Jubel und Ablehnung hat der Schriftsteller Patrick Süskind für mich klärend ausgedrückt:

DER SPIEGEL 38/1990

Deutschland, eine Midlife-crisis

Von Patrick Süskind

 Der Schriftsteller Patrick Süskind, 1949 im bayerischen Ambach geboren, erlangte mit dem Buch „Das Parfüm“ (1985) literarischen Weltruhm. Sein Ein-Personen-Stück „Der Kontrabaß“ ist seit Jahren ein Hit im deutschsprachigen Theater. Der Erfolgsautor, der auch Drehbücher für Fernseh-Serien („Kir Royal“) schreibt, lebt, notorisch publikumsscheu, in München und Paris. Durch die neuesten Entwicklungen in Deutschland sieht Süskind sich und seine Generation aufs höchste irritiert.

Am Donnerstag, dem 9. November 1989, um 19.15 Uhr – ich war damals 40 und zweidrittel Jahre alt – hörte ich in Paris in den französischen Rundfunknachrichten die kurze Meldung, es habe die Ost-Berliner Regierung beschlossen, ab Mitternacht die Grenze zur Bundesrepublik und die zwischen Ost- und West-Berlin zu öffnen.

Sehr gut! dachte ich. Endlich tut sich was. Endlich bekommen diese Leute das elementare Recht auf Freizügigkeit. Endlich schwenkt auch die DDR auf den von Gorbatschow vorgezeichneten Weg der Reformen, der Demokratisierung und Liberalisierung ein wie zuvor schon Ungarn und Polen, wie vermutlich bald die Tschechoslowakei und Bulgarien und wie hoffentlich eines Tages auch das unter dem widerwärtigsten der östlichen Potentaten darbende Rumänien. Ich schaltete das Radio ab und ging essen. Noch war die Welt in Ordnung. Noch begriff ich, was sich politisch in der Welt tat, konnte dem raschen, aber durchaus vernünftig und kalkulierbar erscheinenden Tempo der europäischen Veränderungen folgen. Noch fühlte ich mich so einigermaßen auf der Höhe der Zeit.

Dem war nicht mehr so, als ich ein paar Stunden später vom Essen zurückkehrte. Ich weiß nicht, war es vor oder nach Mitternacht, also noch der 9. oder schon der 10. November – jedenfalls schaltete ich abermals das Radio an, diesmal den Deutschlandfunk, gerate in eine Direktreportage aus Berlin, wo unterdessen eine Art Karnevalsstimmung ausgebrochen zu sein scheint, und höre ein Interview mit dem Regierenden Bürgermeister Walter Momper, dessen Einlassungen in dem Satz gipfeln: „Heute Nacht ist das deutsche Volk das glücklichste Volk auf der Welt!“

Ich war wie vom Schlag getroffen. Ich glaubte mich verhört zu haben. Ich musste den Satz laut nachsprechen, um ihn zu begreifen: „Heute Nacht ist das deutsche Volk das glücklichste Volk auf der Welt!“ – und begriff ihn trotzdem nicht. Hatte der Mann nicht mehr alle Tassen im Schrank? War er betrunken? War ich’s? Was meinte er mit „das deutsche Volk“? Die Bürger der Bundesrepublik oder die der DDR? Die West- oder die Ost-Berliner? Alle zusammen? Womöglich sogar uns Bayern? Am Ende gar mich selbst? Und wieso glücklich? Seit wann kann ein Volk – gesetzt es gäbe überhaupt so etwas wie das deutsche Volk – glücklich sein? Bin etwa ich glücklich? Und weshalb befindet Walter Momper darüber? Und ich erinnere mich eines Wortes von Gustav Heinemann, dem sprödesten, unspektakulärsten und deshalb vielleicht typischsten Präsidenten der Bundesrepublik, der auf die Frage eines Journalisten, ob er Deutschland liebe, trocken geantwortet hat: „Ich liebe meine Frau.“

Mein Gott, Walter Momper! dachte ich, wie konntest du dich so vergreifen! Deinen Satz wird man dir morgen in den Kommentaren um die Ohren hauen. Bis an dein Lebensende wird er dich verfolgen. Ein für allemal lächerlich gemacht hast du dich mit diesem einen, unbedacht dahingesprochenen Satz!

Doch als ich am nächsten Tag die Zeitungen studierte (deutsche gab es nicht mehr, die hatte man den Händlern aus den Händen gerissen) und eifrig Radio hörte, ist Walter Momper der Held des Tages. Nicht nur schlägt ihm niemand seinen Satz um die Ohren, nein, der Satz vom „glücklichsten Volk“ geht um die Welt, ist die Losung der Stunde, wird später (ähnlich dem „Tor des Monats“) zum „Wort des Monats“ gekürt, ja zum „Wort des Jahres 1989″.

Kaum erholt von diesem Schock, entnehme ich ein paar Tage später der Zeitung, daß Willy Brandt, das Idol meiner Jugend, Sozialdemokrat wie Momper, die Parole ausgegeben hat: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“, womit er, ein Zweifel war nicht möglich, die DDR und die Bundesrepublik meint haben musste, inklusive ganz Berlin.

Senilität, denke ich. Ein klarer Fall von Alzheimer oder einer sonstigen altersbedingten Störung des Denk- und Urteilsvermögens. Denn was gehört denn da zusammen, bitte sehr? Gar nichts! Im Gegenteil: Nichts Unzusammenhängenderes lässt sich denken als DDR und BRD! Verschiedene Gesellschaften, verschiedene Regierungen, verschiedene Wirtschaftssysteme, verschiedene Erziehungssysteme, verschiedener Lebensstandard, verschiedene Blockzugehörigkeit, verschiedene Geschichte, verschiedene Promillegrenze – gar nichts wächst da zusammen, weil gar nichts zusammengehört. Schade um Willy Brandt, der sich doch wahrlich in Ehren aufs Altenteil zurückziehen könnte! Warum muss er sich exponieren und solchen Unsinn verzapfen und damit seinen guten Ruf aufs Spiel setzen?

Und wieder liege ich falsch. Ebenso wie zuvor das Wort Mompers ist nun die Äußerung Brandts Parole des Tages, wird enthusiastisch beklatscht auf Massenkundgebungen in Ost und West, wird als Leitformel aufgegriffen, nicht nur von seiner eigenen Partei, sondern auch von den Regierungsparteien, ja sogar von den Grünen.

Und schließlich kam der dritte und letzte Schlag ins Kontor meines historisch-politischen Selbstverständnisses und Selbstbewusstseins, einige Zeit später zwar, aber im gleichen Zusammenhang stehend: Im Februar 1990 sehe ich im deutschen Fernsehen einen Bericht über den Rückflug des Kanzlers Kohl aus Moskau, wo er sich das prinzipielle Plazet der Sowjets zur deutschen Einheit abgeholt hatte – oder abgeholt zu haben glaubte, das tut nichts zur Sache. Der Kanzler Kohl steht im Gang des Flugzeugs, offensichtlich bester Laune, er hält ein gefülltes Sektglas in der Hand, in welchem sich, wie der Kommentator erläutert, Krimsekt befindet, und brüllt den im Fond sitzenden Journalisten und Delegationsmitgliedern zu: „Habt ihr alle was zu trinken da hinten?“ Aha, denke ich, der Mann hat Geburtstag und will einen ausgeben, das ist ja nett von ihm. Weit gefehlt! Der Kanzler Kohl hat, wie ich später dem Lexikon entnehme, erst am 3. April Geburtstag und keineswegs im Februar. Und er will auch nicht einfach einen ausgeben, weil er gerade so guter Laune ist, sondern er hebt, nachdem ihm durch allgemeines zustimmendes Gemurmel signalisiert wurde, dass jedermann zu trinken habe, sein Glas und ruft: „Also dann: Auf Deutschland!“ Und der hinter ihm stehende, zu vier Fünfteln von ihm verdeckte Außenminister beugt sich ein wenig zur Seite, damit man ihn besser sehen könne, und auch er hebt sein Glas, ein wenig zaghafter vielleicht, und trinkt: „Auf Deutschland!“

Mir blieb die Spucke weg. Bis dato hatte ich noch nie einen Menschen auf Deutschland trinken sehen.

Nun muß ich zugeben, daß ich mit Trinksprüchen an und für sich nicht viel anfangen kann. Dieses emphatische Ausbringen von Toasts und, schlimmer noch, das sich meist daran anschließende Aneinanderrammen von Gläsern kam mir immer überflüssig, peinlich und ein wenig unhygienisch vor. Allenfalls geht mir ein dahingesagtes „Zum Wohle!“ von den Lippen und ein flüchtig angedeutetes Heben des Glases von der Hand. Wenn’s sein müsste und wenn eine unvermeidliche feierliche Veranlassung es geböte, wäre ich womöglich bereit, auf eine Person zu trinken, einen Jubilar, einen Laureaten; meinetwegen auch noch auf so nebulöse Dinge wie „eine glückliche Zukunft“, „ein gutes Gelingen“ oder ähnliches – niemals aber auf ein Land. Und von allen Ländern der Welt am allerwenigsten auf Deutschland, mit dessen Namen – es ist ja doch erst 50 Jahre her! – sich unwiderruflich der große Krieg und Auschwitz verbinden.

Jaja, ich weiß, so hat er’s nicht gemeint, der Kanzler Kohl, als er „auf Deutschland!“ trank. Nicht das alte, aggressiv Deutschland hatte er im Sinn, sondern das gegenwärtige und zukünftige, ein friedliches, zivilisiertes und in Europa eingebundenes. In die Zukunft ging sein Blick, nicht in die Vergangenheit, ich glaub’s ihm wohl. . .

DER SPIEGEL 38/1990 S. 118-119

Der Beitrag ist dem Buch „Angst vor Deutschland“ (Herausgeber. Ulrich Wickert) entnommen, das Ende September 1990 bei Hoffmann und Campe erschien.

 ANLAGE 3

Gemeinsame Erklärung

FR 14-16. Juli 1990

Bundeskanzler Helmut Kohl und der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow haben am Dienstag eine „Gemeinsame Erklärung“ unterschrieben, die in der von der Deutsche Presse-Agentur verbreiteten Fassung folgenden Wortlaut hat:

Die Bundesrepublik Deutschland und die Sowjetunion stimmen darin überein, dass die Menschheit an der Schwelle zum dritten Jahrtausend vor historischen Herausforderungen steht. Probleme, die von lebenswichtiger Bedeutung für alle sind, können nur gemeinsam von allen Staaten und Völkern bewältigt werden. Das erfordert neues politisches Denken.

  • Der Mensch mit seiner Würde und seinen Rechten und die Sorge für das Überleben der Menschheit müssen im Mittelpunkt der Politik stehen.
  • Das gewaltige Potential an schöpferischen Kräften und Fähigkeiten des Menschen und der modernen Gesellschaft muss für die Sicherung des Friedens und des Wohlstands aller Länder und Völker nutzbar gemacht werden.
  • Jeder Krieg, ob nuklear oder konventionell, muss verhindert, Konflikte in verschiedenen Regionen der Erde beigelegt und der Frieden erhalten und gestaltet werden.
  • Das Recht aller Völker und Staaten, ihr Schicksal frei zu bestimmen und ihre Beziehungen zueinander auf der Grundlage des Völkerrechts souverän zu gestalten, muss sichergestellt werden. Der Vorrang des Völkerrechts in der inneren und internationalen Politik muss gewährleistet werden.
  • Die Erkenntnisse moderner Wirtschaft, Wissenschaft und Technik bieten ungeahnte Möglichkeiten, die allen Menschen zugutekommen sollen. Risiken und Chancen, die sich hieraus ergeben, verlangen gemeinsame Antworten. Es ist daher wichtig, die Zusammenarbeit auf allen diesen Gebieten auszuweiten, Handelshemmnisse jeglicher Art weiter abzubauen, neue Formen des Zusammenwirkens zu suchen und zum beiderseitigen Vorteil dynamisch zu nutzen.
  • Die natürliche Umwelt muss im Interesse dieser und künftiger Generationen durch entschlossenes Handeln gerettet, Hunger und Armut in der Welt müssen überwunden werden.
  • Neue Bedrohungen einschließlich Seuchen und internationaler Terrorismus müssen energisch bekämpft werden.

Beide Seiten sind entschlossen, ihrer sich aus dieser Einsicht ergebenden Verantwortung gerecht zu werden. Fortbestehende Unterschiede in den Wertvorstellungen und in den politischen und gesellschaftlichen Ordnungen bilden kein Hindernis für zukunftsgestaltende Politik über Systemgrenzen hinweg.

Erster Teil der gemeinsamen Erklärung die folgenden Teile beschäftigen sich vorwiegend mit der Sicherheitspolitik

Abschied vom Ernestinum

Rede anlässlich meines Abschieds vom Ernestinum am 30. Januar 2004

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Freundinnen und Freunde,

In meinem Geburtsjahr 1939 schrieb Brecht sein Gedicht „An die Nachgeborenen“. Die darin gestellten Fragen, was wir denn wohl den nach uns Kommenden mitzuteilen haben, was wir an Rückblicken über uns und unsere gelebte Zeit zu vermitteln haben, beschäftigt mich. Zwei Fragen habe ich mir am Ende meiner Schulzeit am Ernestinum gestellt: Was hat mich geprägt?  Was war mir wichtig, zu vermitteln? Die Antwort sind fünf Themen, die sich im Laufe meines 65jährigen Lebens entwickelten.

  1. Die Auseinandersetzung mit Autorität
  2. Die Auseinandersetzung mit Interaktions- und Rollentheorien
  3. Die Auseinandersetzung mit der Kommunikationslehre
  4. Die Beschäftigung mit dem Enneagramm
  5. Die Anstöße und Anregungen von den Kirchentagen

 1. Autorität

Die Konfrontation mit meinem autoritären Vater, dem vom Nationalsozialismus geprägten Welt- und Menschenbild seiner Generation und auf ihre Amtsautorität pochende Lehrer haben sehr früh meinen (von der Mutter gestützten) Widerstandsgeist geweckt.

Krieg, Niederlage, Flucht und der Zusammenbruch der Wertesysteme  hat meine Generation geprägt und herausgefordert. Wir entwickelten Widerstand gegen alle Autoritäten, gegen einseitige Ideologien, gegen überkommene Werte und Normen.

Der Kant’schen Reinen und Praktischen Vernunft verpflichtet, wollten wir Aufklärung, das heißt die Befreiung des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.

In Frage stellen“, „hinterfragen“, „fragwürdig machen“ wurden zu Leitbegriffen einer Pädagogik, die sich  der Demokratie, der Menschenwürde, der Hilfe für die Schwachen verpflichtet fühlte. Der autoritäre Führungsstil sollte in der Schule dem demokratischen Führungsstil weichen, mit dem Ziel, Kinder und Jugendliche an Prozessen zu beteiligen, sie mit in die Verantwortung zu nehmen. Autorität musste und muss ständig neu erworben werden, durch Kompetenz und Achtung. Das galt für mich bis zuletzt: Autoritäten zu hinterfragen, mich selber in Frage zu stellen und stellen zu lassen, den Schülerinnen und Schülern das Recht einzuräumen, mich zu kritisieren, um so Änderungen gemeinsam zu gestalten und zu leben.

2. Die Interaktions- und Rollentheorie

Neben die Philosophie als Instrument zur intellektuellen Durchdringung demokratischer und gesellschaftlicher Phänomene unserer Gesellschaft trat die Soziologie, die Lehre von den Zusammenhängen und Bedingungen der Gesellschaft.

So entstand das Bewusstsein dafür, dass jeder Mensch in mehreren, oftmals divergierenden Rollen lebt. Als Eltern sind wir zugleich Kinder, als Lehrende auch zugleich Lernende. Wir mussten erkennen, dass wir in unterschiedlichen Rollen, unterschiedliche Bewertungen der gleichen Dinge vornahmen, dass wir selber in Rollenkonflikte verstrickt sind. Wir lernten und lehrten, dass Handeln abhängig von Rollen ist.

Daraus entstand das Ziel, die Selbsterkenntnis zu fördern, sich seiner eigenen Rollen bewusst zu werden und damit in der Begegnung mit anderen effektiver zu sein, Interessen besser durchzusetzen, aber auch Konflikte besser lösen zu können.

Für den Deutschunterricht entstanden daraus neue Ansätze für die Interpretation und das Verständnis literarischer Werke.

Für den Unterricht in Religion und Werte und Normen entwickelte sich daraus die Auseinandersetzung mit der Erziehung zu empathischem Verhalten, d.h. die Fähigkeit, sich in die Rolle anderer zu versetzen. Daraus erwuchs eine neue Form des verantwortlichen Umgangs mit den eigenen Ansprüchen und mit Macht und Autorität.

Und es geht um die Gewinnung einer Identitätsbalance, um das Ausbalancieren zwischen dem Anspruch so zu sein, wie jeder andere, d. h., nicht aufzufallen, sich einem allgemeinen Trend anzupassen, und so zu sein wie kein anderer, d.h. Individualist und gegebenenfalls einsam zu sein. Darüber zu reden, war ein erster Schritt zur Meta-Kommunikation. Damit sind wir beim dritten Schwerpunkt:

3. Die Kommunikationslehre

Als 1969 bei Huber der dunkelrote Band „Menschliche Kommunikation“ von Watzlawick, Beavin und Jackson in deutscher Übersetzung erschien, wurde er sehr bald zum Bestseller der Intellektuellen. Plötzlich waren viele zwischenmenschliche Prozesse erklärbar, die vorher im Dunkel geblieben waren. Watzlawick stellte fest, dass es unmöglich sei, nicht zu kommunizieren, dass es eine komplementäre Kommunikation gibt, d.h. dass sich unterschiedliche Kommunikationspartner ergänzend entsprachen und dass es eine symmetrische Kommunikation gibt, eine Kommunikation zwischen gleichwertigen Partnern. Sensationell war auch die Unterscheidung zwischen Inhalts- und Beziehungsaspekten der Kommunikation.

Mit diesem metakommunikativen Ansatz ließen sich Paradoxien auflösen oder zumindest erklären.

Als 1972 Umberto Ecos „Einführung in die Semiotik“ auf deutsch erschien, wurde Kommunikation als System von Zeichen, mit deren Hilfe wir uns verständigen, definiert. Die Semiotik dient dazu, die Vielschichtigkeit von Deutungen an Beispielen der Kultur zu erläutern.

Die Kommunikationslehre und die Semiotik erweiterten unsere Sicht. Wir wurden befähigt, unser unterrichtliches Handeln neu zu reflektieren und zu kommunizieren.

Kommunikationsstörungen konnten erklärt und gelöst werden – vor allem mit Hilfe von Watzlawicks Feststellung, dass sich bestimmte Konflikte nicht innerhalb eines Systems lösen lassen, sondern nur von außen.

Die Kommunikationslehre war eine echte Bereicherung, vor allem für den Unterricht.

Kunsttheorien sind ohne diese Erkenntnisse nicht mehr denkbar. Die Erziehung zum verantwortlichen Umgang mit den neuen Medien, die die fiktionale und die reale Wirklichkeit beliebig mischen, wird mit Hilfe der Erkenntnisse aus der Kommunikations-Theorie möglich.

Eine Erweiterung unserer Betrachtungs- und Deutungsmöglichkeiten, um Welt und Menschen verstehen und erklären zu können, sehe ich auch im vierten Schwerpunkt, im Enneagramm

4. Das Enneagramm

Das Enneagramm ist eine alte Sufiweisheit, die davon ausgeht, dass es neun Grundmuster menschlichen Verhaltens gibt. Es ist ein Modell, das als offenes System Erklärungen und Möglichkeiten zur Selbsterkenntnis anbietet. Das Nosce te ipsum (Das Erkenne dich selbst) ist ein Philosophem des abendländischen Denkens.

Das Enneagramm ist eine Möglichkeit und Anleitung, mit unseren Anlagen bewusst und verantwortlich umzugehen. Es zeigt uns zugleich, dass wir nur einen Blickwinkel von maximal 120 Grad aus uns selbst abdecken. Wir bedürfen also zum Erfassen eines Problems, eines Menschen, eines Sachverhalts immer der Mithilfe anderer Menschen, anderer Muster.

Selbst wenn der Glaube an die Wahrheit und die Tragfähigkeit des Modells fehlte, bliebe ein Wortfeld von mindestens 168 Wörtern zur Beschreibung des menschlichen Wesens und des menschlichen Verhaltens. Das ist für sich schon ein Gewinn und hilft, Menschen, ihre Fähigkeiten und Abhängigkeiten differenzierter und genauer zu sehen. Das Faszinierende am Enneagramm ist jedoch, dass es ein sich erweiterndes, ein offenes System ist, das nicht festlegt, sondern befreit, zur Selbsterkenntnis und zur Erkenntnis anderer Menschen führt.

Die Frage nach angeborenen und anerzogenen Verhaltensweisen und Eigenschaften und Charaktermerkmalen hat die Menschen schon immer beschäftigt und erhält durch das Enneagramm neue Impulse und Antworten: Ändere, was zu ändern ist, akzeptiere, was sich nicht ändern lässt und lerne, das eine vom anderen zu unterscheiden!

 5. Kirchentage

Ohne die Verankerung im Glauben kann ich mir mitmenschliches Tun, die liebevolle Zuwendung zum Nächsten nicht vorstellen. Die Kirchentage haben im Laufe der Jahre den Glauben als wandlungsbedürftiges und wandlungsfähiges Phänomen sichtbar, fühlbar und erlebbar gemacht.

Die Gewissheit in der Gemeinschaft, Vertrauen wagen zu dürfen, hat sich als gute Basis meines Lebens erwiesen.

Die Auseinandersetzung mit der Theologie der Befreiung, das Nachforschen nach dem Leben in seiner Fülle, wie es Dorothee Sölle 1983 auf dem Weltkirchentag in Vancouver aufgefächert hat, hat geholfen, die Enge eines festgelegten Kanons von Unterrichtsthemen zu erweitern.

Die Diskussion um die Liebesfähigkeit im Spiegel des christlichen Doppelgebots, die Fragen nach der Wirksamkeit der Bergpredigt als Strategiepapier für verantwortliches politisches und privates Handeln, hat zur lebendigen Auseinandersetzung mit Grundfragen des Glaubens geführt.

Ohne Kirchentage und deren breiten Konsens zu Fragen der Friedensfähigkeit und Konfliktfähigkeit anstelle von Friedfertigkeit hätte ich die Auseinandersetzung in der Schule zum Vietnamkrieg, zum Nato-Doppelbeschluss, zur Friedensbewegung nicht führen können.

Der Kirchentag von unten, der dem offiziellen Kirchentagsmotto „Fürchte dich nicht“  die Verhaltensaufforderung „Fürchte dich“ entgegensetzte, hat auch mich geprägt. Sich zu  fürchten vor dem 17-fachen atomaren Overkill, vor dem nuklearen Winter, vor dem verantwortungslosen Umgang mit der Umwelt, vor ungesunder Nahrung und vergiftetem Wasser, kann uns befreien und ermutigen zum Widerstand, zu eigener Verantwortung.

Die Kirchentage haben uns neue Lieder gebracht, neue Umgangsformen erschlossen. Sie waren stärkend für Kirchengemeinden und Schul-gemeinschaften.

Das Motto des kommenden Kirchentages lautet: „Wenn dein Kind dich morgen fragt . . .“. Es macht mich schon jetzt nachdenklich. Welche Fragen werden unsere Kinder uns stellen? Welche Antworten können, welche müssen wir geben? Wie wird es uns mit dem, was wir unseren Nachgeborenen sagen, gehen?

Ich verabschiede mich heute vom Leben in der Schule. Ich bedanke mich für die Herausforderungen der gemeinsamen Jahre und wünsche euch und Ihnen für die Zukunft alles Gute.

Ethik und neue Technologien I

Der Niedersächsische Kultusminister

ETHIK UND NEUE TECHNOLOGIEN I

Dokumentation einer Tagung des Niedersächsischen Kultusministers, der Konföderation Evangelischer Kirchen in Niedersachsen, des Katholischen Büros Niedersachsen. In Zusammenarbeit mit dem Religionspädagogischen Institut Loccum (RPI).V

Vom 10. bis 12. November 1986 in der Evangelischen Akademie Loccum

Mein Beitrag

Ethische Implikationen bei eugenischen und gentechnologischen Maßnahmen

Zur Standortbestimmung

Die Entwicklungen der Biotechnologie, auch soweit sie den Menschen mittelbar und unmittelbar betreffen, sind von Patricia Nevers in ihren vielfältigen Entwicklungen beschrieben worden. Ich möchte im folgenden die ethischen Implikationen in dem Bereich erörtern, der den Menschen direkt betrifft.

Die Vereinigung molekularbiologischer und medizinischer Wissenschaften ermöglicht heute:

  • die Analyse der individuellen menschlichen Erbanlagen,
  • den Transfer genetischer Informationen in Körperzellen und
  • den Transfer genetischer Informationen in befruchtete Eizellen, d. h. die Veränderung der Erbanlagen in der Keimbahn.

Bereits heute werden Möglichkeiten gesehen, Erbfehler zu beseitigen, körperliche Mängel zu korrigieren. Wenn Fachleute schätzen, „dass bis Ende des Jahrhunderts mehr als 6000 Krankheiten und Störungen entdeckt sein werden, die auf ‚defekten Genen’ beruhen“ (1), dann wird in Zukunft ein wesentlich höherer gentechnologischer „Reparaturbedarf“ des Menschen zu erwarten sein. So wird es z. B. möglich sein, gesunde Blutstammzellen aus menschlichen Embryonen in das Knochenmark Leukämiekranker zu übertragen, um dadurch eine Heilung zu erreichen (2).

Aus  diesen Beispielen ergeben sich bereits schwierige ethische Fragestellungen:

  • Sollen wir Embryonen als Materiallieferanten für gesunde Körperzellen benutzen?
  • Sollen wir Embryonen zu diesem Zweck züchten?
  • Sollen wir den Gen-Pool nach unserem Willen verändern?

Solche ethischen Fragestellungen sind Fragen nach dem menschlichen Handeln, nach Sollensaussagen, also Fragen nach Geboten und Verboten. Bei der Reflexion ethischer Implikationen sollen die den Geboten und Verboten hinterlegten Werte benannt werden. Wertekollisionen sollen untersucht und Abwägungen und Werteverkoppelungen verdeutlicht werden.

Die folgenden Untersuchungen zur Werteimplikation beziehen sich auf solche menschlichen Handlungen, durch die versucht wird, das menschliche Erbgut gezielt zu verändern, den Genpool bestimmter Gruppen zu manipulieren, also auf Versuche der Menschenzüchtung und damit auf die Veränderung der Menschheit insgesamt.

Zu berücksichtigen gilt, dass der Mensch heute immer weniger isoliert in der Gesamtheit der Natur gesehen wird. Er wird als Bestandteil ökologischer, ökonomischer, naturhafter und lebenshafter Systeme gesehen, theologisch ausgedrückt: als Teil der Schöpfung. Dabei erscheint mir als Angelpunkt aller ethischen Betrachtungsweisen und Wertesysteme die Klärung der Frage: Welcher Wert wird dem Menschen zugewiesen?

Der Mensch als selbstgesetzter Wert?

Der Mensch als Subjekt definiert sich selbst. Diese Fähigkeit des Menschen, sich als Subjekt selbst zum Objekt machen zu können, ist ein wesensbestimmendes Merkmal. Das Menschenbild, das der Mensch selber von sich entwirft, wird zum Maßstab und zum Bezugspunkt aller Bewertungen und somit auch zur Meßlatte im Wertesystem, mit dem genmanipulative Veränderungen unter ethischen Gesichtspunkten betrachtet werden.

Dieses Menschenbild wird von den verschiedenen Wissenschaften sehr unterschiedlich gesehen und interpretiert. Mediziner legen den Menschen anders fest als Ökologen, Genetiker anders als Juristen, Moraltheologen anders als Soziologen.

Für den ethischen Diskurs erscheinen mir zwei Typen von Menschenbildern bedeutsam, die ich in einem dualen System als religiöses und weltliches darstellen möchte.

religiöses Menschenbild                                              weltliches Menschenbild

Der Mensch steht neben Tier und                               Der Mensch steht als Individuum

Pflanze als Gattung Gott gegenüber                          Der Gesellschaft gegenüber

Der Mensch ist – als Ebenbild Gottes –                        Der Mensch ist Produkt seiner Entwicklung

Geschöpf.                                                                          

Veranlagungen und Fähigkeiten                                  Veranlagungen und Fähigkeiten

sind von Gott gegeben.                                               sind erworben oder erbmäßig

angelegt

Die Seele ist Bestandteil des Göttlichen                   Seele- Körper-Geist

am Menschen                                                            bilden eine Einheit

Bei einer differenzierteren Beschreibung der Entwicklung von Menschenbildern ließe sich dieses Schema ausweiten und verflechten. Diese Entwicklung hat meines Erachtens dazu geführt:

  • dass unser heutiges Menschenbild weitgehend vom Glauben an wissenschaftliche Erklärungsmodelle geprägt ist;
  • dass die Empirie als Methode zur Erklärung des Menschen anerkannt ist,
  • dass sich die Empirie zu einem eigenen Wert an sich entwickelt hat.

So wurden durch die empirischen Untersuchungen von Charles Darwin, Gregor Mendel und Thomas Morgan um die Jahrhundertwende die seit Jahrtausenden betriebenen Züchtungsunternehmungen von Tieren und Pflanzen auf eine neue wissenschaftliche Basis gestellt. Da erkannt wurde, dass der Mensch auch zu der Spezies „Säugetier“ gehört, konnten hinfort alle Gesetzmäßigkeiten der Erbbiologie auch auf den Menschen angewendet werden.

Der Fortschritt, mit immer tiefgreifenderen Erkenntnissen in die Feinstruktur der Bausteine des Lebens, ging scheinbar ohne ethische Bewertung einher. Vom Nützlichkeitsgesichtspunkt her war die Kenntnis der Naturgesetze eine wichtige Voraussetzung, um die Ausleseprozesse und die Züchtung neuer, scheinbar besserer Arten zu beschleunigen.

Ich unterstelle, dass Fortschritt und Nützlichkeit in der Regel nicht als ethische Kategorien anerkannt worden sind, dass sie auch nicht einmal verbindlich als Werte definiert wurden. Erst die Fähigkeit und die Bereitschaft, in sog. vernetzten Systemen zu denken – ein Begriff von Frederic Vester -, hat die Wertekonflikte und die Fragwürdigkeit von sog. Erfolgen verdeutlicht.

So, wie man bei der Pflanzen- oder Tierzüchtung verfuhr, indem man sog. „minderwertiges Erbmaterial“ von der Fortpflanzung ausschloss und nur noch „erbgesundes Erbgut“ an der Vermehrung teilnehmen ließ, verfuhr man zeitweilig auch beim Menschen. Es entstand der „Wissenschaftszweig“ der Eugenik. Besonders fragwürdig waren dabei die scheinwissenschaftlichen Modelle der Rassentheoretiker, weil sie vom Phänotypus (äußeres Erscheinungsbild) auf den Genotypus (vererbbare Merkmale) schlossen. Die nationalsozialistisch beeinflussten Rassenlehrer verkoppelten zudem äußere Merkmale mit „inneren Werten“, also moralischen Kategorien. Gut war nach dieser Lehre, wer besondere „arische“ äußerliche Merkmale trug, schlecht, wer äußerlich erkennbare „jüdische“ Kennzeichen aufwies. Es kam im Gefolge dieser „Lehre“ zu einer Vermessungseuphorie.

Diese Rassenideologie führte zum einen zu Paarungsanstalten (Lebensborn) und zum anderen zu Vernichtungsmaschinerien (Auschwitz und Treblinka).

Die nationalsozialistischen Programme und Handlunge zur Züchtung eines idealen Menschentyps bleiben ebenso wie die Sterilisationsprogramme auch in anderen Ländern ein erschreckendes Zeugnis wertmäßig begründeten Handelns.

In einer Resolution amerikanischer Kirchenführer an den US Kongress aus dem Jahre 1984 heißt es:

„Der Taumel der Begeisterung über Eugenik erreichte einen fieberhaften Höhepunkt damit, dass viele Staaten gesetzliche Bestimmungen, über Sterilisation erließen und der Kongress der Vereinigten Staaten in den zwanziger Jahren ein neues Einwanderungsgesetz verabschiedete, das auf eugenischen Überlegungen beruhte. Als eine Folge der neuen Gesetzgebung wurden tausende von amerikanischen Bürgern sterilisiert, damit sie ihre ‚minderwertigen’ Erbanlagen nicht weitergeben konnten, und die Bundesregierung versperrte ihre Tore vor gewissen Einwanderungsgruppen, die sie bei den bestehenden eugenischen Standards für biologisch untauglich hielten.“ (3)

Die Vernichtung von Millionen von Juden, von „Andersrassigen“, die „Ausmerzung lebensunwerten Lebens“, d. h. von Behinderten und Kranken, in der Zeit des Nationalsozialismus haben uns nicht nur gezeigt, zu welchen wahnsinnigen Konsequenzen die Züchtungsideologien führen können, sondern sie lassen uns auch erkennen, wie ethische Bewertungsmaßstäbe aufgebaut werden können wie moralische Beurteilungsverfahren zur Rechtfertigung von Handlungen ablaufen.

Beim Versuch der Bewertung der Euthanasieprogramme, eine Form der Vergangenheitsbewältigung, ist bis heute nicht gelungen, die massenweise Tötung juristisch als Beihilfe zum Mord zu beurteilen (4). Und es erscheinen mir folgende Beurteilungen zahlreicher Prozessbeobachter zuzutreffen:

  • Die Verurteilung der Handlungen, der an Züchtungsprogrammen beteiligten Handelnden als Verbrecher hat nur von außen stattgefunden.
  • Die beteiligten Beamten, Ärzte, Angestellten haben sich in der Regel im Einklang mit moralischen Wertesystemen befunden, die ihr Handeln als moralisch „gut“ und im Sinne der eigenen Gruppe als positiv definiert haben.
  • Ein Unrechtsbewusstsein hat bei den wenigsten Tätern bestanden.
  • Ob sich bis heute ein Unrechtsbewusstsein in Bezug auf staatlich verordnete eugenische Maßnahmen eingestellt hat, ist nur schwer festzustellen.

Der Wert des Menschen scheint jeweils an die Werte der eigenen Gruppe gebunden zu sein. Andersartige Menschen werden häufig als „minderwertig“ betrachtet. Die Verbesserung der eigenen „Rasse“ erscheint als „gute Handlung“. „Gesund“ und „krank“ als Werte bestimmen unsere Beziehungen und Bewertungen zu allen eugenischen Maßnahmen und zu allen Möglichkeiten und ihren Beurteilungen, die im Rahmen gentechnisch manipulatorischer Beeinflussung des menschlichen Erbgutes liegen.

Die Erfahrung in der Ära der nationalsozialistischen Herrschaft hat uns wachsam und nachdenklich gemacht. Seitdem werden eugenische Programme äußerst kritisch beobachtet. Die Gefahr ist jedoch nicht beseitigt. Sie ist heute viel subtiler aufzuspüren, wie die amerikanischen Bischöfe aufgezeigt haben:

„Die Besorgnis um ein Wiederauftauchen der Eugenik ist gut begründet, entsteht aber am falschen Ort. Während Berufsethiker die vordere Tür nach verräterischen Anzeichen für ein Wiederauferstehen des Nazi-Alptraums beobachten, ist die Doktrin der Eugenik leise durch die Hintertür hereingeschlichen. Neue Eugenik ist kommerziell, nicht gesellschaftlich geprägt. Anstelle der schrillen eugenischen Rufe nach rassischer Reinheit spricht die neue Eugenik in pragmatischen Tönen medizinischer Wohltaten und der Verbesserung der Lebensqualität. Die alte Eugenik war eingetränkt in politische Ideologie und durch Angst und Hass motiviert. Die neue Eugenik ist untermauert durch medizinischen Fortschritt und das Gespenst der Verlängerung des menschlichen Lebens. (…)

Jeder neue Fortschritt in der Humangenetik wird vermutlich als großer Schritt vorwärts verkündet werden, als Segen für die Menschheit. Jeder einzelne Durchbruch in der Gentechnologie wird, unter gewissen Umständen, irgendwo in der Gesellschaft irgendjemandem zum Vorteil gereichen. Und Schritt für Schritt, Fortschritt für Fortschritt können wir Menschen möglicherweise bereit sein, die Spontaneität natürlichen Lebens für die Vorhersagbarkeit technologischen Entwurfs einzutauschen, bis die Gattung Mensch, wie wir sie kennen, in ein Produkt unserer eigenen Schöpfung umgeformt ist.“ (5)

Es bleibt festzustellen: Die „Spontaneität natürlichen Lebens“ wird als Wert von den amerikanischen Bischöfen über den Wert der „Vorhersagbarkeit technologischen Entwurfs“ gestellt. Es wird m. E. bei allen moralischen Betrachtungsweisen in Zukunft darauf ankommen, welche Werte in der Gesellschaft, bei den Wissenschaftlern, den Gentechnikern, den Politikern und Gesetzgebern dominieren. Das Dritte Reich hat uns gezeigt, wie leicht eine Umwertung der Werte erfolgen kann, wie Andersdenkende eingeschüchtert werden können, wie Werte miteinander verkoppelt werden können.

Sehr ähnlich scheint das auch heute zu sein. „Gesundheit“, „Fortschritt“ und „Planbarkeit“ werden als Werte mit dem Wert „edler Mensch“ verbunden. Was edel ist, legt die Gruppe fest. Wer sich dagegen stemmt, gilt als unmoralisch. Dennoch ist die Situation zugleich völlig neu, nicht vergleichbar mit anderen geschichtlichen Epochen in der Menschheitsgeschichte:

„Heute liegt die allerletzte Anwendung politischer Macht in unserer Reichweite; die Fähigkeit, das zukünftige Leben menschlicher Wesen zu kontrollieren, indem man ihre Eigenschaften im voraus konstruiert; sie zu Geiseln ihrer eigenen architektonisch entworfenen Baupläne zu machen. Gentechnologie entspricht der Macht der Urheberschaft. Niemals zuvor in der Geschichte ist derart allumfassende Macht über das Leben möglich gewesen. Der Gedanke, das Leben eines Menschen gefangenzusetzen, indem man einfach bei der Empfängnis seinen genetischen Bauplan bearbeitet, ist schlichtweg furchterregend.“ (6)

Die gentechnologische Situation ist heute durch folgende Aspekte gekennzeichnet:

  • Durch die Analyse menschlicher Erbanlagen wird die inhaltliche Gestaltung des Menschen in Zusammenhang mit „Gen-Therapie“ und „Bio-Engineering“ möglich.
  • Die Machbarkeit bezieht sich nicht länger auf die Außenwelt des Menschen.
  • Viele Vorgänge erscheinen als irreversibel.
  • Der Mensch wird zum Schöpfer seiner selbst.

Das Neue wird auch am Zeitfaktor deutlich. Durch das Zusammenwirken von Umweltfaktoren, Mutationen und Selektionen ist in einer langen Kette der Evolution im Zeitraum von fünfzehn Millionen Jahren das für den heutigen Menschen typische Informationssystem entstanden.

„Die biologische Evolution wird aber auf eine ganz neue Stufe gehoben, wenn nunmehr der Mensch sich selbst in seinen biologisch-genetischen Grundlagen erkennt und sich selbst optimal programmiert. Dies wird vermutlich zu einer unüberschaubaren Beschleunigung der evolutionären Innovation führen. … Man hat immerhin errechnet, dass konventionelle Methoden der Züchtung neue Merkmale etwa zehntausendmal schneller hervorbringen, als es durch natürliche evolutionäre Prozesse geschieht, und dass entwickeltes ‚genetic engineering’ diesen Prozess nochmals um den gleichen Faktor beschleunigt, gegenüber der natürlichen Evolution also um einen Faktor von Einhundertmillionen. Damit könnte das bei natürlichen Evolutionsprozessen vorhandene Gleichgewicht zwischen Geschwindigkeit der Mutationen und der Änderung der Umwelt völlig aufgehoben werden.“ (7)

Ich wage an dieser Stelle zu behaupten:

Wir stehen an der Schwelle einer Umwälzung aller Wertesysteme.

Es hat den Anschein als müssten wir den „Grundwert Mensch“ neu definieren. Bereits im Vorfeld der Gentechnologie, im Bereich der sog. Reproduktionsmedizin müssen wir Begriffe wie „Vaterschaft“, „Mutterschaft“, „Familie“, „Freiheit“ und „Menschenwürde“ neu festlegen, weil bei künstlicher Befruchtung im Reagenzglas nicht mehr im herkömmlichen Sinn von Mutter oder Vater gesprochen werden kann, zumal dann, wenn es sich um anonyme Samen- oder Eispender handelt.

Gerhard Amend hat darauf hingewiesen, dass die Einheit von Sexualität und Zeugung durch die neuen Verfahren der „Reproduktion der Gattung“ nachhaltig gestört worden ist und dass durch das Selbstverständnis der Mediziner die Sexualität und „Kindererzeugung“ zu einer Form „mechanischer Menschenproduktion durch instinkthaft gesteuerte Organvollzüge“ verkommen sei (8).

Amend weist darauf hin, dass es einen Unterschied zwischen der Trennung des Sexualaktes von der Zeugung und eine Zeugung ohne menschliche Sexualität gibt. Und diese Zeugung ohne die Beteiligung von Phantasie, Emotionen, Ideen wie Kinderwunscherfüllung und partnerschaftliche Schöpfungsideen sei eine „bisher nur in Analogieschlüssen antizipierbare Belastung für die psychosoziale Entwicklung der Kinder und die Beziehung der Partner zueinander“ (9).

Hier zeigt sich, wie sehr der Mensch immer mehr zur Sache wird:

Eine Gruppe von Menschen kann den Schlüssel zum Leben willkürlich handhaben. Der Mensch wird aus seinen natürlichen Prozessen herausgelöst und zur Sache gemacht, die man repariert, wie man ein defektes Auto repariert. Dabei ist die Fragwürdigkeit unseres Krankheitsbegriffs und die Abhängigkeit der Bewertungen von Umweltbedingungen und gesellschaftlichen Phänomenen längst erkannt. Die Schaffung gleicher Menschen geschieht ja nicht unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit, auch nicht unter dem Aspekt, die Würde des Menschen zu wahren oder seine Freiheit zu garantieren.

Dies wäre aber Voraussetzung, um die Genmanipulation als positiv zu bewertende Handlungen erscheinen zu lassen. Die Ethiker sind sich anscheinend darin einig, dass durch die Manipulation in Keimbahnzellen die Definition von der Freiheit des Menschen aufgelöst wird. Freiheit ist immer an die Möglichkeit des Menschen zur Selbstbestimmung geknüpft gewesen. Diese Freiheit fand akzeptierterweise ihre Grenzen in der Einschränkung, die die Möglichkeiten der Selbstbestimmung durch Erbanlagen erfuhren. Aber dennoch wurde auch in diesen zufälligen Zusammenstellungen der Erbbedingungen von Mutter und Vater her die Bedingungen freiheitlichen Handelns nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Die züchterische Festlegung durch die Ausschaltung bestimmter Gene würde jedoch das Wesen in einer Art vorbestimmen, die die Selbstbestimmung und damit die Freiheit erheblich einschränkt.

Die Unterscheidung zwischen Mensch und Sache wird zudem immer schwieriger. Der Streit um den Umgang mit befruchteten Eizellen und Embryonen hat dies verdeutlicht. Doris Weber hat auf dieses Problem hingewiesen:

„… wenn es eines Tages keine Geburt mehr und auch keine Gebärmütter mehr gibt – dann könnte schon ein Mörder sein, wer das befruchtete Ei eines Menschen in den Mülleimer wirft, vielleicht beginge aber auch nur Sachschaden, wer einen solchen – erwachsen gewordenen – Retortenmenschen vernichtet. „ (10)

Die Richter haben sich auf dem Deutschen Juristentag inzwischen darauf geeinigt, die befruchtete Eizelle als Embryo und damit als schützenswertes menschliches Leben zu definieren. Unumstritten ist diese Definition nicht. Mediziner und Forscher würden selbst den Blasenkeim lieber als Sache definiert sehen. Sie begründen dies mit der Tatsache, dass sich nicht eindeutig voraussagen lasse, welche der zwölf Zellen sich zum Lebewesen Mensch und welche sich zur Plazenta umwandeln.

Der Streit wird weitergehen. Aber an dieser Grenzstelle wird bereits deutlich, wie sehr moralische Kategorien und ethische Betrachtungsweisen an die Definition von Mensch und Menschenwürde geknüpft sind. Gerade im Zusammenhang mit der Festlegung des Begriffs Embryo und Mensch in der Relation zur Sache wird deutlich, dass der Mensch selbst ein Wert ist.

Die Würde des Menschen ist – nicht nur durch die besondere Stellung im Grundgesetz – der höchste anerkannte Wert in unserer Gesellschaft. Es scheint jedoch auch für Ethiker schwierig zu sein, die Menschenwürde nicht nur zu beschwören, sondern sie positiv zu umschreiben.

Die Menschenwürde wird als schutzbedürftig herausgestellt. Seit die Sozialwissenschaftler angefangen haben, das Denken in vernetzten Systemen einzuüben, scheinen auch die Ethiker mit ihren Modellen Schwierigkeiten zu haben, Handlungen unter ethischen Aspekten zu bewerten. Angst um die Unverletzlichkeit der Person und um die Menschenwürde entsteht häufig im Hinblick auf monokausales Denken, weil sich in Analysen herausgestellt hat, dass zwar das Gute gewollt wurde, aber Verwerfliches geschaffen worden ist. Es geht nicht mehr nur um die Würde des direkt betroffenen Menschen, wenn wir im Zusammenhang mit der Gentechnik über Menschenwürde sprechen. Es geht – wie Ernst Benda aufgezeigt hat – gleichermaßen um die Würde des Vaters, der Mutter, des Kindes und der Menschheit. (11)

Martin Honecker weist darauf hin, dass es bei der Beurteilung des Wertes der Menschenwürde auch um unser Verhältnis zu den Grenzen des Machbaren und Wünschbaren gehe und vor allem darum, welche Einstellung wir grundsätzlich zum Leiden haben:

„Das ist der Anlass zur Besinnung darauf, ob wir von Menschenwürde reden dürfen, wenn wir nur den vollkommenen, den gesunden Menschen im Auge haben. Gehört zur Anerkennung der Würde des Menschen nicht ebenso, dass auch dem Leid der Behinderten, dem leidenden Menschen Raum in unserer Gesellschaft und in unserem Leben bleibt?“ (12)

Ernst Benda hat Kultur als Entwicklungsprozess dargestellt und daran angeschlossen: „Das Element des Wandels kann die Auslegung des Begriffs der Menschenwürde beeinflussen.“ (13) Und es hat sich nach meiner Kenntnis ein Wandel vollzogen. In der Humanmedizin und in der Gentechnologie haben sich neue Entwicklungen gezeigt, die als fortschrittlich und segensreich eingestuft werden. Ein Zurück ist nicht mehr möglich. Dennoch wird immer wieder nach den Ethikern gerufen, es wird nach den ethischen Implikationen gefragt, und es werden die Ethiker aufgerufen, ihre Bewertung der vollzogenen Handlungen vorzunehmen.

In allen Aussagen spiegelt sich nach meinen Erfahrungen auf mehreren Tagungen und Kongressen eine starke Ambivalenz. Es ist dies die Ambivalenz zwischen Segen und Fluch der Technik. Wenn sich – wie Benda sagt – die Rechtskultur einer Gesellschaft aus dem Konsens über die wesentlichen Rechtsordnungen und Wertvorstellungen ergibt, so muss dieser Konsens heute in Frage gestellt werden. Das liegt nach meiner Meinung an dem oben vorgetragenen dualen System der Menschenbilder. Der dialektische Prozess, der sich in den vergangenen Jahren abgespielt hat, einen synthesenhaften Ansatz zur Bewertung von Mensch und Menschenwürde zu finden, hat sich in der wissenschaftslogischen und forschungsimmanenten Wertfreiheit ethischer Maßstäbe ergeben, die nicht mehr Unterschied zwischen dem Hantieren mit Menschen- oder Schimpansenembryonen. (14)

Die Zerrissenheit in der Diskussion spiegelt sich in der Unsicherheit der Ethiker, verbindliche Wertesysteme anzubieten, die eindeutig und verbindlich als normgebende Werteskalen konsensfähig wären. Ein Maßstab bietet sich in den Stellungnahmen der Kirchen an, die den Wert des Menschen aus der Ebenbildlichkeit Gottes und aus dem Status des Menschen als Geschöpf ableiten.

Die EKD hat in ihrer Denkschrift „Von der Würde des werdenden Lebens“ im November 1985 definiert, was unter Menschenwürde zu verstehen ist und wo die Grenzen gesetzt werden sollten:

1.1 „Menschliches Leben ist eine Gabe Gottes und hat eine besondere Würde. Diese Gabe, die in Gottes Liebe ihren Ursprung hat, will in Liebe angenommen und weitergegeben werden. Menschliches Leben ist durch die Liebe und zur Liebe bestimmt.“

1.2 Zeugung und Geburt gehören nach christlichem Verständnis in den Zusammenhang von Liebe und Ehe.

1.7 Zur Menschenwürde gehört das Recht, sich nicht genetisch erforschen zu lassen.

1.8 Das Genom (Erbgut) prägt biologisch die Individualität eines Menschen. Die Menschenwürde gebietet, dass dies nicht manipuliert wird.

1.9 Freiheit zur Forschung hat ihre Grenze an der Würde des menschlichen Lebens.

2.7 Achtung vor der Würde und Individualität des Menschen müssen bei jeder Entscheidung den obersten Grundsatz bilden.

3.4 Die genetische Abstammung ist ein Bestandteil der persönlichen Identität.“ (15)

Es muss dabei beachtet werden, dass in den Denkmodellen der Theologen der Mensch immer deutlicher in den Gesamtrahmen der Schöpfung gestellt wird, dass hervorgehoben wird, dass nicht nur das Geschöpf Mensch, sondern die gesamte Schöpfung vor dem Subjekt Mensch zu schützen ist. Ein Konsens zwischen Theologen und Wissenschaftlern – mit ihren auf die Freiheit der Forschung pochenden Forderungen nach Handlungsfreiheit – ergibt sich heute vielleicht in der allgemeinen Aussage: Subjekt und Objekt zugleich zu sein bedeutet, sich in der Schöpfung oder in der Evolution zu sehen, auf jeden Fall im Rahmen von nicht abgeschlossenen Prozessen.

Dies wird möglich, weil auch die Moraltheologen heute den Schöpfungsakt nicht mehr als einen einmaligen Akt festlegen, sondern in der Schöpfung eine ständige Wiederholung und Zuwendung Gottes zu seinen Geschöpfen erblicken.

Die Angst vor der Irreversibilität gentechnologischer Maßnahmen hat die Diskussion der letzten Jahre stark geprägt. Diese Angst sollte nicht nur auf das Produkt der menschlichen Schöpfung bezogen werden, sondern sie ist auch, so möchte ich hier behaupten, auf unser Wertegefüge und unsere ethischen und moralischen Kategorien zu beziehen, die wir nicht zur Disposition gestellt wissen wollen. Wenn der Mensch erst einmal im allgemeinen Bewusstsein zur Sache geworden ist, kann man ihn dann wieder umwerten?

Es muss darum gehen, die Würde des Menschen zu bewahren, den Menschen als Wert anzuerkennen. Für mich hat dies der Hamburger Alttestamentler Richard Wonneberger am deutlichsten formuliert:

„Würde des Menschen bedeutet, dass er mehr ist als die Prozesse, die er von sich verstehen und manipulieren kann. Vielleicht ist es hilfreich, auch in dieser Frage an eine schon lange geführte Debatte anzuknüpfen, nämlich die der medizinischen Ethik. Auch hier stehen sich ja zwei Pole gegenüber: Die Degradierung des Kranken zum Objekt durch die Apparatemedizin auf der einen Seite und die Würde des Leidenden und Sterbenden im Kontext seiner sozialen Beziehungen auf der anderen Seite. Apparatemedizin ist sicherlich nicht per se schlecht, denn sie kann dazu beitragen, daß die Würde wiederhergestellt wird. Die Grundfrage heißt aber, ob wir Krankheit und Tod nur als operativ zu bekämpfende Schwächen dieser Schöpfung ansehen oder ob wir sie als Stück von uns akzeptieren und darin Subjekt bleiben.“ (16)

 

Literaturverzeichnis

(1) Vgl. hierzu: Marianne Quoirin: Chancen und Risiken der Gen-Manipulation, in: Liberale Depesche, April 1984, S. 39

(2) Vgl. hierzu: Prof. Dr. Dieter Krebs: SCHÖNE NEUE WELT – EIN BESSERER MENSCH DURCH MEHR FORTSCHRITT? – Künstliche Befruchtung und Gentechnologie aus medizinischer Sicht, Vortrag auf dem bundeszentralen Informationsseminar des Deutschen Landfrauenverbandes am 5. November 1982 in Bonn, veröffentlicht im Kongress Bericht: DURCH BIOTECHNOLOGIE EIN NEUER MENSCH?, S. 31 ff

(3) Jeremy Rifkin u. a.: Die theologische Schrift bezüglich der moralischen Argumente gegen genetische Eingriffe in die menschlichen Keimzellen, Washington 1984, S. 5

(4) Dies zeigt sich am deutlichsten in dem Streit zwischen der Humanistischen Union und dem Richter Helmut Kramer am Oberlandesgericht Braunschweig (Frankfurter-Rundschau-Dokumentation vom 26. April 1984) und dem Hessischen Justizministerium (FR vom 9. Juni), den Auszügen aus den Beschlüssen des Landgerichts Limburg vom 27. Mai 1970 aus der FR vom 20.07.1984, aus den Dokumentationen des „Arbeitskreises zur Erforschung der Geschichte der „Euthanasie“ und den Dokumentationen der Frankfurter Prozesse   in der Wochenzeitung DIE ZEIT vom 07.03.1986 und vom 26.09.1986.

(5) Jeremy Rifkin u. a. a.a.O, S. 7

(6) Walter Remmers: Der Mensch darf nicht die Verantwortung für eine universale gerechte Schöpfungsordnung übernehmen. – Rede vor dem Niedersächsischen Landtag am 25.04.1986, lt. Pressemitteilung des Nds. Justizministers vom gleichen   Tage,    S. 2 f

(8) Gerhard Amendt: Der neue Klapperstorch, zit nach Frankfurter Rundschau: DOKUMENTATION vom 20. und 21. Mai 1986

(9) ebd. Hervorhebungen durch den Autor D.H.

(10) Vgl. hierzu: Doris Weber: Auf dem Wege in grenzlose Möglichkeiten, Frankfurter Rundschau vom 12.01.1985

(11) Ernst Benda: Erprobung der Menschenwürde am Beispiel der Humangenetik, in: Beilage zu DAS PARLAMENT B 3/85 (19.01.1985), S. 27

(12) Martin Honecker: DIE WÜRDE DES MENSCHEN – WIE WEIT DARF DER      FORTSCHRITT GEHEN?, in: Kongressbericht des DEUTSCHEN LANDFRAUENVERBANDES S. 57 (vgl. Anm. 2)

(13) Ernst Benda, a.a.O. S. 26

(14) Diesen Aspekt hat besonders deutlich hervorgehoben: Jürgen Hübner: Brauchen wir eine neue Ethik? – Theologische Überlegungen im Zeitalter der Gentechnologie, in: Beilage zu DAS PARLAMENT B 3/8 5, S. 38

(15) Denkschrift der EKD „Von der Würde des werdenden Lebens“, Gütersloh 1985

(16) Reinhard Wonnenberger: Der Griff in die Schöpfung – ethische Grenzen der Gen-Technologie?, in: GENTECHNOLOGIE – Dokumentation der Rudolf-von-Bennigsen-Stiftung, Hannover 1985, S. 20