Tag der Deutschen Einheit

Als ehemaliger Berater des Ministers für Abrüstung und Verteidigung der DDR Rainer Eppelmann. Gehalten in einer Festveranstaltung der Gemeinschaft der Vielen und des Celler Schlosstheater in der CD-Kaserne in Celle. Die von mir ausgesuchten Anlagetexte wurden von Schauspielern des Schlosstheaters vorgetragen.

Zum 3. Oktober 2019

Wenn ich mich an den 3. Oktober 1990 als den Tag der Deutschen Einheit erinnere, dann kann ich das nicht losgelöst von den Ereignissen im Herbst 1989 tun, an die friedliche Revolution mit der Demonstration in Leipzig, an den Tag der Maueröffnung am 9. November, an die 168 Tage wirklich demokratischer DDR.

Um die Vereinigung als Teil eines geschichtlichen Prozesses zu verstehen, der mit der Selbstauflösung eines diktatorischen Staates mitsamt seiner bedrohlichen Armee begann und bis heute nicht wirklich abgeschlossen ist, müssen wir uns an die Situation von vor 30 Jahren erinnern.

Am 17. Juni 1989 – damals als „Tag der Deutschen Einheit“ in Erinnerung an den Aufstand von 1953 in Ostberlin ein Feiertag – sprach Erhard Eppler vor dem Deutschen Bundestag in Bonn:

Ich freue mich, dass ich vor Ihnen zu dem Thema sprechen darf, das mich vor vier Jahrzehnten in die Politik getrieben hat, das über Nacht wieder drängender, brisanter geworden ist und uns mehr denn je verbindliches Reden abverlangt. Wir hören schrille Töne aus Ländern, denen wir uns freundschaftlich verbunden wissen. Verwundert und verwirrt sehen wir uns mit Angstträumen konfrontiert, die mit unseren Hoffnungen nichts zu tun haben. Ein Gesamtdeutschland, dem Westen abgewandt, der europäischen Bindung müde, im Bunde mit der Sowjetunion auf dem Wege zur ökonomischen Hegemonie in Zentral- und Osteuropa, ein Viertes Reich aus der Asche der NATO erstehend — solche Befürchtungen sind offenbar auf einem anderen Stern angesiedelt als unsere Hoffnungen.

Die Ängste vor einem erstarkenden Gesamtdeutschland waren in Ost und West gleichermaßen virulent. Reibungslos verlief die Zustimmung zur Vereinigung am 3. Oktober 1990 nicht.

Und ohne die Demokratisierungsprozesse in Polen, Ungarn, der CSSR und im Baltikum wäre das Ende der DDR und damit die Vereinigung der beiden deutschen Staaten, die wir heute feiern, nicht möglich gewesen.

In den Bürgerrechtsgruppen, die im Herbst 1989 für Reisefreiheit, Gerechtigkeit, Redefreiheit, Demokratie und allgemeine Menschenrechte demonstrierten, stand die Abschaffung der DDR nicht auf dem Programm. Man wollte einen demokratischen Sozialismus verwirklichen.

Es gab vielmehr Überlegungen für eine Föderation oder einen Bundesstaat, vor allem aber die Idee ein neues europäisches Sicherheitssystem zu entwickeln. Und soweit die Opposition und Bürgerrechtler außenpolitische Aspekte überhaupt berücksichtigten, hielten sie Frieden, Abrüstung und Entmilitarisierung immer für wichtiger als die Einheit der Nation.

Auch diejenigen, die im Sommer 1989 mit ihrer Ausreise über Ungarn die Auflösung des Staates beförderten, gingen davon aus, dass die DDR weiter existieren würde. Sie gaben Wohnung, Arbeitsplatz und Freunde auf und machten sich von Prag oder Budapest aus auf den Weg ins Ungewisse. Es waren also gerade diejenigen, die nicht an das Ende des Systems glauben wollten, die den Zusammenbruch beschleunigten.

Und auch auf der großen Demonstration auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989 forderten die Teilnehmer*innen weder in Reden, noch in Sprechchören und auch nicht auf den Spruchbändern und Plakaten das »einige deutsche Vaterland«.

Dennoch verbinden wir die Erinnerung an den Herbst 1989 mit den beiden Losungen: „Wir sind das Volk“ und „Wir sind ein Volk“.

Bei genauem Hinsehen- bzw. Hinhören ist unter „Volk“ jeweils Verschiedenes verstanden worden:

„Wir sind das Volk“ riefen die Demonstrant*innen vom 9. Oktober den Sicherheitskräften und damit den Herrschenden entgegen.

Und zeitgleich stand auf einem Flugblatt von Pfarrer Wonneberger, das sich an die Sicherheitskräfte richtete: „… reagiert auf Friedfertigkeit nicht mit Gewalt. Wir sind ein Volk. Gewalt unter uns hinterlässt ewig blutende Wunden.“ Wonneberger appellierte also an das Verbindende über den Graben der Konfrontation hinweg.

Ab wann der Satz „Wir sind ein Volk“ als Forderung nach der deutschen Einheit gemeint war und skandiert wurde, ist strittig. Es war jedenfalls nicht vor dem Fall der Mauer.

Die Stasi notiert diese Losung für den 13. November. Massenhaft verbreitete sie sich vor allem durch Aufkleber und Plakate, die die West-CDU zum Jahreswechsel verbreitete.

Am 19. Dezember 1989 – anlässlich der öffentlichen Begegnung von Kohl und Modrow – schwenkten die Dresdner Bürger*innen auf dem Theaterplatz schwarz-rot-goldene Fahnen ohne Hammer, Zirkel und Ährenkranz sowie die grün-weiße Fahne Sachsens und skandierten im Chor die bekannte Zeile aus der Nationalhymne der DDR „Deutschland einig Vaterland“.

Die „Friedliche Revolution“ fand ohne Smartphones und ohne Handys statt. Die Demonstrant*innen waren sich immer bewusst, dass sie von der Stasi beobachtet und observiert wurden, dass sie riskierten, festgenommen und verhört zu werden.

Jeder und jede, die sich an der Revolte beteiligten, gingen ein hohes Risiko ein.

Ab Sommer 1988 hatte ich als Sprecher eines Arbeitskreises „Liberalismus und Kirche“ der FDP Niedersachsen regelmäßigen Kontakt mit Bürgerrechtler*innen in der Samaritergemeinde in Ostberlin. Wir dachten gemeinsam nach über die Möglichkeiten demokratischer Teilhabe, über die Stärkung und Entwicklung von  Freiheits- und  Bürgerechten in der DDR, sowie über die Sicherung des  Friedens in der damaligen Zeit der Hochrüstung der militärischen Blöcke und suchten nach Möglichkeiten der konkreten Umsetzung. Wir diskutierten Konzepte für das „Gemeinsame Haus Europa“ und länderübergreifenden europäischen Umweltschutz

Zu dem Kreis gehörten – um nur einige zu nennen – Rainer Eppelmann, Bärbel Bohley und Hans Peter Schneider.

Rainer Eppelmann hat gestern das große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland für seine bis heute andauernden Bemühungen für den deutschen Einigungsprozess erhalten.

Ein Jahr lang arbeiteten wir an einer gemeinsamen Erklärung zum 50. Jahrestag des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf Polen. Wenige Tage vor der Maueröffnung haben wir sie veröffentlicht. Obwohl die Stasi mehrere Informelle Mitarbeiter in unsere Gruppe platziert hatte, gab es von dieser Seite keine Restriktionen.

1989 wird Rainer Eppelmanns Mitglied des sogenannten Runden Tisches. Er wird zum Minister ohne Geschäftsbereich in der Regierung Modrow berufen. Aus Sicht der ehemaligen Mitstreiter*innen gehört er nun zu den Mächtigen, ein Teil der Freunde zieht sich zurück.

Schon als er den „Demokratischen Aufbruch“ als Partei gegründet hat, distanziert sich Bärbel Bohley von ihm, sie will der Bewegung „Neues Forum“ weiterarbeiten. NF – auch das Kürzel der Nationalen Front – wird Zeichen des Neuen Forums.

Im März 1990 finden die ersten demokratischen, freien und geheimen Wahlen in der DDR statt. Rainer Eppelmann wird in der Regierung de Maiziere Minister für Abrüstung und Verteidigung. Er beruft mich zum Leiter seines Beraterstabs, zu dem ab Juni 1990 auch Egon Bahr zählt.

Der 3. Oktober ist für mich nicht ohne den 23.August zu denken. Am 23. August hat die Volkskammer nachts um kurz vor 3 Uhr beschlossen, am 3. Oktober die Vereinigung zu vollziehen. Der Bericht über diese Volkskammersitzung im Tagesspiegel (siehe Anlage) liest sich heute noch spannend, und noch einmal neu im Spiegel des aktuellen Geschehens in London.

Ebenso der anliegende Text von Patrick Süßkind im Spiegel.

Die in diesen beiden Artikeln – beispielhaft – benannte Ambivalenz ist heute noch spürbar und führt immer wieder zu konfrontativen Auseinander-setzungen, zu Diskussionen um Schuld und Verstrickung um Stolz auf geleistete Hilfe und Beschämung durch vermeintliche Missachtung.

Am heutigen Feiertag zur Deutschen Einheit ist mir wichtig, daran zu denken und zu erinnern, dass

  • Die deutsche Einheit nur gelingen konnte, weil es keine Großmachtallüren und keinen Nationalismus gegeben hat.
  • Die Vier Siegermächte des zweiten Weltkrieges der Vereinigung zugestimmt haben.
  • Die deutsche Vereinigung nur möglich war, weil die Warschauer Paktstaaten Polen, Ungarn, CSSR und das Baltikum ihr Lösung von der UdSSR bereits betrieben und teilweise schon durchgesetzt hatten.
  • Der deutsche Einigungsprozess friedlich verlaufen ist und ist trotz vieler problematischer Entwicklungen insgesamt zufriedenstellend verlaufen ist.

In den vergangenen dreißig Jahren sind fast 2 Billionen Euro in den Aufbau Ost investiert worden – auch finanziert mit dem Solidaritätsbeitrag aller deutschen Bürgerinnen und Bürger aus West- und Ostdeutschland. Die Infrastruktur ist deutlich verbessert und oftmals besser als im Westen. Die blühenden Landschaften, von denen Bundeskanzler Kohl im Wahlkampf 1990 gesprochen hatte, sind sichtbar – wenngleich nicht überall. Die Hochschulen haben einen guten Standard, einen guten Ruf und guten Zulauf.

Der Tourismus boomt, die Altstädte sind weitgehend saniert und werden von Bürgern und Touristen angenommen. Auch wenn die Treuhand Fehler gemacht hat, so ist doch die Aufbauleistung im Wesentlichen gelungen. Die Rechtsstaatlichkeit ist umgesetzt, das Sozialsystem funktioniert.

Aus eigener Anschauung und Mitwirkung am Einigungsprozess kann ich feststellen, dass wir keine Vorgaben hatten, dass wir an einem Punkt Null anfangen mussten und dass alle Beteiligten in Ost und West mit großem Elan, mit viel Einsatz, großer Anstrengung und auch  mit Phantasie den Prozess gestaltet haben.

3 Millionen qualifizierte Kräfte sind aus dem Osten in den Westen abgewandert. Aber auch mehr als eine Million Bürger*innen aus dem Westen sind in den Osten umgesiedelt, um Neues zu wagen und Veränderung (mit)zu gestalten. Nicht alle hatten an ihrem neuen Ort Erfolg.

Wir sollten uns heute – auch wenn uns Frust und Ungeduld entgegenkommt, die enormen Leistungen wertschätzen, die Menschen auf beiden Seiten und allen Ebenen erbracht haben. Innerhalb von Monaten mussten sich die Wertesysteme, die Welt- und Menschenbilder wandelt und sie haben es getan. Nicht alle konnten das Tempo mithalten, nicht allen ist die Veränderung gelungen und mancher wollte sie auch nicht und mancher ist nachvollziehbar enttäuscht.

Ich wünsche mir, dass wir diesen heutigen Tag nutzen, um uns zu vergewissern und uns bewusst zu machen, dass diese Vereinigung ein Glücksfall war und ist – aber auch, dass es noch viel zu tun gibt.

ANLAGE 1

DER TAGESSPIEGEL, Freitag, 24. August 1990

Nächtliche Jubelszenen in der Volkskammer

Um 2 Uhr 50 fiel die Entscheidung über den DDR-Beitritt am 3. Oktober

Von unserem Korrespondenten

Gz. Berlin. Es war 2 Uhr 50 an diesem denkwürdigen 23. August 1990, als Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl dem Hohen Hause sagte, diesmal bereite es ihr Vergnügen, das Abstimmungsergebnis mitzuteilen: 294 Ja-Stimmen, 62 Nein-Stimmen, sieben Enthaltungen, keine ungültigen Stimmen. Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik auf Grund des Artikels 23 des Grundgesetzes war damit zum 3. Oktober mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit, für die 267 Stimmen ausgereicht hätten, erklärt.

Freudenszenen spielten sich auch bei den Abgeordneten und den Regierungsmitgliedern ab. Die meisten standen auf und applaudierten, die einen sichtlich bewegt, andere in nie zuvor erlebter Fröhlichkeit. Auch Ministerpräsident Lothar de Maiziere, der das Parlament durch einen erst am Abend gegen 19 Uhr gestellten Antrag auf Einberufung einer Sondersitzung vor die Notwendigkeit einer sofortigen Entscheidung gestellt hatte, wirkte gelöst. Der Druck des Beitrittsproblems war gewichen, der Fahrplan zur deutschen Einheit klar. Alles wird schneller geschehen, als man- es noch vor Tagen oder Wochen auch nur zu denken gewagt hatte.

Es hatte ja in der Luft gelegen, dass der Termin endlich festgemacht werden musste nach dem langen Gerangel und Gezerre, das nicht immer rationalem Problemverständnis, sondern allzu oft einem Bedürfnis nach parteitaktisch erwünschten populistischen Effekten entsprang. Dass de Maiziere entschlossen war, diesen Konflikt zu beenden, hatte er den Fraktionsvorsitzenden bei dem Treffen tags zuvor klargemacht, bei dem man sich auf den 14. Oktober verständigte — auf einen Kompromiss, der nur wenige Stunden hielt, weil die SPD nicht ihrem Fraktionsvorsitzenden Schröder folgte, der daraufhin zurücktrat.

Aber in der Parlamentssitzung, die um 16 Uhr begann und die das Ende der nach Ansicht vieler Politiker und Beobachter zu langen Sommerpause bedeutete, stand nur das gesamtdeutsche Wahlgesetz auf der Tagesordnung. Dass es — anders als in der blamablen Sondersitzung am 8. August — diesmal die Zweidrittelmehrheit fand, hatte Schadensbegrenzung und einen Rückgewinn an Reputation für das Parlament bedeutet. Erst als dieser Punkt abgehakt war, beantragte de Maiziere, der während der Sitzung ständig an einem Manuskript gearbeitet hatte, die sofortige Einberufung einer Sondersitzung zur Entscheidung über den Beitrittstermin.

Unterschiedliche Sachverhalte

Es war klar, dass dem Antrag nach der Geschäftsordnung stattgegeben werden musste. Als die zweite Sitzung an diesem Tage gegen 21 Uhr von Vizepräsident Reinhard Höppner eröffnet wurde, lagen zwei Anträge zu diesem Thema vor, die erkennen ließen, wie weit die Parteien noch voneinander entfernt waren. Die DSU, die schon am 17.- Juni einen-Antrag auf sofortigen- Beitritt gestellt hatte,- wiederholte ihn, nur mit der Fortschreibung des Datums auf den 22. August. Und eine Gruppe von mehr als 20 Abgeordneten aus der Fraktion CDU/Demokratischer Aufbruch forderte eine Festlegung, am 9. Oktober den Beitritt für den 14. Oktober, 24 Uhr, zu beschließen, also für das Ende des Tages, an dem die Landtagswahlen in der bisherigen DDR stattfinden werden.

Hier ging es nicht nur um unterschiedliche terminliche und politische Vorstellungen, sondern auch — der PDS-Vorsitzende Gregor Gysi machte darauf aufmerksam, wenngleich es Höppner längst wusste — um unterschiedlich zu bewertende Sachverhalte. Was die DSU verlangte, war ein konstitutiver Akt, der also eine Zweidrittelmehrheit erfordert hätte. Hingegen lief der Antrag aus der CDU/DA auf einen Beschluss, etwas erst später endgültig zu beschließen, hinaus. Dafür hätte die einfache Mehrheit genügt. Aber die Frage wäre damit nicht, wie es ja auch de Maiziere auf seine Weise wollte, verbindlich entschieden gewesen. Der Konflikt, den sich die DDR nicht leisten konnte, wäre weitergegangen.

Dass es eine lange Nacht wurde, lag weniger an den Reden als an den zahlreichen Beratungspausen und den zeitraubenden namentlichen Abstimmungen. Während im Plenum oft Leere und Müdigkeit herrschte, wurde in allerlei Gremien diskutiert und zur Probe abgestimmt. Das eigentliche Problem war, dass man eine sofortige verpflichtende Entscheidung noch in dieser Nacht wollte, die Zweidrittelmehrheit aber erst zusammengezimmert werden musste.

Dennoch war es der wohl beste Debattentag dieser am 18. März demokratisch gewählten Volkskammer. Nicht nur, dass die meisten Redebeiträge von staatspolitischer Perspektive zeugten: Endlich einmal waren sie nicht platte Statements, sondern dienten dem Dialog, der Erarbeitung der Mehrheit.

De Maiziere nannte seine Maßstäbe: Man brauche ein Ende der Diskussion, müsse geordnet in die deutsche Einheit gehen und sich der Geschichtlichkeit des Vorganges bewusst sein. Die täglichen Sorgen der Bürger dürften nicht solchen Diskussionen untergeordnet werden. Es gebe Aufgaben, die nur wir erfüllen können“. Darum, sagte er, den DSU-Antrag verwerfend, werde er seinen Auftrag erst als erledigt betrachten, wenn er alles ihm Obliegende auch getan habe. Und dann versöhnlich: Man müsse „die Sache über die Taktik stellen“, und er meine, dass „wir alle dasselbe wollen, nämlich das Beste für unsere Bürger“.

Jürgen Schwarz von der DSU sah das anders. Jeder Tag des Wartens koste Millionen und behindere unumgängliche Entscheidungen. Die Menschen brauchten einen klaren Weg; das ‚bankrotte Unternehmen DDR‘ müsse beendet werden. Die Partner bei den Zwei-plus-Vier-Gesprächen würden das schon- hinnehmen.

Günter: Krause von der CDU, der als Parlamentarischer Staatssekretär die Verhandlungen mit Bonn über den Einigungsvertrag führt, konterte hart: Ein Einigungsvertrag mit 900 Seiten bringe den DDR-Bürgern mehr Sicherheit als ein ungeregelter Beitritt. Auch müsse Deutschland außenpolitisch berechenbar bleiben. Wenn die KSZE-Staaten schon damit einverstanden seien, das Verhandlungsergebnis nicht erst auf dem Gipfeltreffen im November, sondern schon auf der New Yorker Außenministerkonferenz am 1. und 2. Oktober entgegenzunehmen, dann müsse man wenigstens diesen Termin respektieren, und dann sei der frühestmögliche Beitrittstag der 3. Oktober.

Den Sozialdemokraten und anderen, denen die Länderbildung am 14. Oktober als weitere unerlässliche Voraussetzung erschien, suchte Krause eine Brücke zu bauen. Der Einigungsvertrag werde Anpassungs- und Übergangsbestimmungen enthalten, die einen früheren Beitritt möglich machen würden, etwa die Einsetzung von Länderbeauftragten, die bis zur Wahl der Länderregierungen fungieren würden, beratende Stimmen im Bundesrat und volles Stimmrecht im Bundestag.

Wolfgang Thierse, SPD-Vorsitzender und gerade auch Fraktionschef geworden, brachte wieder den 15. September ins Spiel, drei Tage nach Abschluss der Zwei-plus-Vier-Gespräche. Den Beitritt wollte er noch nicht an diesem Abend beschließen: Die Festlegung auf den Beitritt dürfe „uns nicht auf den Einigungsvertrag festlegen“. Aber wenn man über diesen befunden habe, müsse die „dramatisch sich zuspitzende Wirtschaftssituation“ das Handeln bestimmen.

Gysi ging das alles zu schnell: Man solle nur den Beschlusstag festlegen und nicht die Illusion schüren, dass allein schon der Beitritt die ungelösten Probleme lösen könne. Und zu den vielen Terminvorschlägen: „Ich kann diese Motive nicht mehr nachvollziehen,“

Rainer Ortleb von der FDP hingegen wollte die sofortige Entscheidung, sah aber das Problem: Wo findet sich die Zweidrittelmehrheit? Es war etwa Mitternacht, als er sagte, man müsse vermitteln, die Stimmungen richtig bewerten. Wieder gab es Unterbrechungen. Dann wurde abgestimmt. Der DSU-Antrag verfiel um 0 Uhr 45 der Ablehnung (56 Ja-Stimmen, 183 Nein-Stimmen, 125 Enthaltungen). Nachdem auch einige andere Anträge abgelehnt worden waren, wurden die Diskussionen innerhalb der DSU-Fraktion erregt.

Dann bahnt sich ein Umdenken an. Jens Reich vom Bündnis 90/Grüne sieht keine „vermittelnde Formulierung“ zwischen sofortigem Beitritt und der Erfüllung von Bedingungen. „Wir können nur Ja oder Nein sagen.“ Das meint auch Gysi, der „der Regierung nicht jeden Spielraum nehmen“, also abwarten will. Dann bringt es Thierse auf den Punkt: Die DDR könne doch nicht damit drohen, der Bundesrepublik nicht beizutreten. Im. übrigen: „Wir fallen doch nicht, unter die Räuber.“ Nun räumt auch Schwarz von der DSU Kompromissbereitschaft ein, und Ortleb meint: „Wir sollten zum Schluss finden.“

Gysis sentimentalen Töne

Der besteht in einem gemeinsamen Antrag von CDU, DSU, FDP und SPD, sofort und verbindlich den Beitritt zum 3. Oktober zu beschließen. Die Auszählung der Stimmzettel dauert eine gute Stunde. Dann die Bekanntgabe des historischen Ergebnisses. Frau Bergmann-Pohl bemerkt dazu: „Ich glaube, das ist ein wirklich historisches Ereignis. Ich danke allen, die es im überparteilichen Konsens ermöglicht haben.“

Es gibt noch zwei persönliche Erklärungen. Gysi schlägt sentimentale Töne an und bedauert den Beschluss über den „Untergang der DDR“, der daraufhin von der Mehrheit laut beklatscht‘ wird. Und Verkehrsminister Horst Gibtner, um Mitternacht 50 Jahre alt geworden, äußert Freude über dieses „große Geschenk“ und hofft nun auf konstruktive Arbeit, „wie unsere Wähler das von uns erwarten“.

Um 2 Uhr 57 ist alles gesagt und getan.

ANLAGE 2

Die Ambivalenz zwischen Jubel und Ablehnung hat der Schriftsteller Patrick Süskind für mich klärend ausgedrückt:

DER SPIEGEL 38/1990

Deutschland, eine Midlife-crisis

Von Patrick Süskind

 Der Schriftsteller Patrick Süskind, 1949 im bayerischen Ambach geboren, erlangte mit dem Buch „Das Parfüm“ (1985) literarischen Weltruhm. Sein Ein-Personen-Stück „Der Kontrabaß“ ist seit Jahren ein Hit im deutschsprachigen Theater. Der Erfolgsautor, der auch Drehbücher für Fernseh-Serien („Kir Royal“) schreibt, lebt, notorisch publikumsscheu, in München und Paris. Durch die neuesten Entwicklungen in Deutschland sieht Süskind sich und seine Generation aufs höchste irritiert.

Am Donnerstag, dem 9. November 1989, um 19.15 Uhr – ich war damals 40 und zweidrittel Jahre alt – hörte ich in Paris in den französischen Rundfunknachrichten die kurze Meldung, es habe die Ost-Berliner Regierung beschlossen, ab Mitternacht die Grenze zur Bundesrepublik und die zwischen Ost- und West-Berlin zu öffnen.

Sehr gut! dachte ich. Endlich tut sich was. Endlich bekommen diese Leute das elementare Recht auf Freizügigkeit. Endlich schwenkt auch die DDR auf den von Gorbatschow vorgezeichneten Weg der Reformen, der Demokratisierung und Liberalisierung ein wie zuvor schon Ungarn und Polen, wie vermutlich bald die Tschechoslowakei und Bulgarien und wie hoffentlich eines Tages auch das unter dem widerwärtigsten der östlichen Potentaten darbende Rumänien. Ich schaltete das Radio ab und ging essen. Noch war die Welt in Ordnung. Noch begriff ich, was sich politisch in der Welt tat, konnte dem raschen, aber durchaus vernünftig und kalkulierbar erscheinenden Tempo der europäischen Veränderungen folgen. Noch fühlte ich mich so einigermaßen auf der Höhe der Zeit.

Dem war nicht mehr so, als ich ein paar Stunden später vom Essen zurückkehrte. Ich weiß nicht, war es vor oder nach Mitternacht, also noch der 9. oder schon der 10. November – jedenfalls schaltete ich abermals das Radio an, diesmal den Deutschlandfunk, gerate in eine Direktreportage aus Berlin, wo unterdessen eine Art Karnevalsstimmung ausgebrochen zu sein scheint, und höre ein Interview mit dem Regierenden Bürgermeister Walter Momper, dessen Einlassungen in dem Satz gipfeln: „Heute Nacht ist das deutsche Volk das glücklichste Volk auf der Welt!“

Ich war wie vom Schlag getroffen. Ich glaubte mich verhört zu haben. Ich musste den Satz laut nachsprechen, um ihn zu begreifen: „Heute Nacht ist das deutsche Volk das glücklichste Volk auf der Welt!“ – und begriff ihn trotzdem nicht. Hatte der Mann nicht mehr alle Tassen im Schrank? War er betrunken? War ich’s? Was meinte er mit „das deutsche Volk“? Die Bürger der Bundesrepublik oder die der DDR? Die West- oder die Ost-Berliner? Alle zusammen? Womöglich sogar uns Bayern? Am Ende gar mich selbst? Und wieso glücklich? Seit wann kann ein Volk – gesetzt es gäbe überhaupt so etwas wie das deutsche Volk – glücklich sein? Bin etwa ich glücklich? Und weshalb befindet Walter Momper darüber? Und ich erinnere mich eines Wortes von Gustav Heinemann, dem sprödesten, unspektakulärsten und deshalb vielleicht typischsten Präsidenten der Bundesrepublik, der auf die Frage eines Journalisten, ob er Deutschland liebe, trocken geantwortet hat: „Ich liebe meine Frau.“

Mein Gott, Walter Momper! dachte ich, wie konntest du dich so vergreifen! Deinen Satz wird man dir morgen in den Kommentaren um die Ohren hauen. Bis an dein Lebensende wird er dich verfolgen. Ein für allemal lächerlich gemacht hast du dich mit diesem einen, unbedacht dahingesprochenen Satz!

Doch als ich am nächsten Tag die Zeitungen studierte (deutsche gab es nicht mehr, die hatte man den Händlern aus den Händen gerissen) und eifrig Radio hörte, ist Walter Momper der Held des Tages. Nicht nur schlägt ihm niemand seinen Satz um die Ohren, nein, der Satz vom „glücklichsten Volk“ geht um die Welt, ist die Losung der Stunde, wird später (ähnlich dem „Tor des Monats“) zum „Wort des Monats“ gekürt, ja zum „Wort des Jahres 1989″.

Kaum erholt von diesem Schock, entnehme ich ein paar Tage später der Zeitung, daß Willy Brandt, das Idol meiner Jugend, Sozialdemokrat wie Momper, die Parole ausgegeben hat: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“, womit er, ein Zweifel war nicht möglich, die DDR und die Bundesrepublik meint haben musste, inklusive ganz Berlin.

Senilität, denke ich. Ein klarer Fall von Alzheimer oder einer sonstigen altersbedingten Störung des Denk- und Urteilsvermögens. Denn was gehört denn da zusammen, bitte sehr? Gar nichts! Im Gegenteil: Nichts Unzusammenhängenderes lässt sich denken als DDR und BRD! Verschiedene Gesellschaften, verschiedene Regierungen, verschiedene Wirtschaftssysteme, verschiedene Erziehungssysteme, verschiedener Lebensstandard, verschiedene Blockzugehörigkeit, verschiedene Geschichte, verschiedene Promillegrenze – gar nichts wächst da zusammen, weil gar nichts zusammengehört. Schade um Willy Brandt, der sich doch wahrlich in Ehren aufs Altenteil zurückziehen könnte! Warum muss er sich exponieren und solchen Unsinn verzapfen und damit seinen guten Ruf aufs Spiel setzen?

Und wieder liege ich falsch. Ebenso wie zuvor das Wort Mompers ist nun die Äußerung Brandts Parole des Tages, wird enthusiastisch beklatscht auf Massenkundgebungen in Ost und West, wird als Leitformel aufgegriffen, nicht nur von seiner eigenen Partei, sondern auch von den Regierungsparteien, ja sogar von den Grünen.

Und schließlich kam der dritte und letzte Schlag ins Kontor meines historisch-politischen Selbstverständnisses und Selbstbewusstseins, einige Zeit später zwar, aber im gleichen Zusammenhang stehend: Im Februar 1990 sehe ich im deutschen Fernsehen einen Bericht über den Rückflug des Kanzlers Kohl aus Moskau, wo er sich das prinzipielle Plazet der Sowjets zur deutschen Einheit abgeholt hatte – oder abgeholt zu haben glaubte, das tut nichts zur Sache. Der Kanzler Kohl steht im Gang des Flugzeugs, offensichtlich bester Laune, er hält ein gefülltes Sektglas in der Hand, in welchem sich, wie der Kommentator erläutert, Krimsekt befindet, und brüllt den im Fond sitzenden Journalisten und Delegationsmitgliedern zu: „Habt ihr alle was zu trinken da hinten?“ Aha, denke ich, der Mann hat Geburtstag und will einen ausgeben, das ist ja nett von ihm. Weit gefehlt! Der Kanzler Kohl hat, wie ich später dem Lexikon entnehme, erst am 3. April Geburtstag und keineswegs im Februar. Und er will auch nicht einfach einen ausgeben, weil er gerade so guter Laune ist, sondern er hebt, nachdem ihm durch allgemeines zustimmendes Gemurmel signalisiert wurde, dass jedermann zu trinken habe, sein Glas und ruft: „Also dann: Auf Deutschland!“ Und der hinter ihm stehende, zu vier Fünfteln von ihm verdeckte Außenminister beugt sich ein wenig zur Seite, damit man ihn besser sehen könne, und auch er hebt sein Glas, ein wenig zaghafter vielleicht, und trinkt: „Auf Deutschland!“

Mir blieb die Spucke weg. Bis dato hatte ich noch nie einen Menschen auf Deutschland trinken sehen.

Nun muß ich zugeben, daß ich mit Trinksprüchen an und für sich nicht viel anfangen kann. Dieses emphatische Ausbringen von Toasts und, schlimmer noch, das sich meist daran anschließende Aneinanderrammen von Gläsern kam mir immer überflüssig, peinlich und ein wenig unhygienisch vor. Allenfalls geht mir ein dahingesagtes „Zum Wohle!“ von den Lippen und ein flüchtig angedeutetes Heben des Glases von der Hand. Wenn’s sein müsste und wenn eine unvermeidliche feierliche Veranlassung es geböte, wäre ich womöglich bereit, auf eine Person zu trinken, einen Jubilar, einen Laureaten; meinetwegen auch noch auf so nebulöse Dinge wie „eine glückliche Zukunft“, „ein gutes Gelingen“ oder ähnliches – niemals aber auf ein Land. Und von allen Ländern der Welt am allerwenigsten auf Deutschland, mit dessen Namen – es ist ja doch erst 50 Jahre her! – sich unwiderruflich der große Krieg und Auschwitz verbinden.

Jaja, ich weiß, so hat er’s nicht gemeint, der Kanzler Kohl, als er „auf Deutschland!“ trank. Nicht das alte, aggressiv Deutschland hatte er im Sinn, sondern das gegenwärtige und zukünftige, ein friedliches, zivilisiertes und in Europa eingebundenes. In die Zukunft ging sein Blick, nicht in die Vergangenheit, ich glaub’s ihm wohl. . .

DER SPIEGEL 38/1990 S. 118-119

Der Beitrag ist dem Buch „Angst vor Deutschland“ (Herausgeber. Ulrich Wickert) entnommen, das Ende September 1990 bei Hoffmann und Campe erschien.

 ANLAGE 3

Gemeinsame Erklärung

FR 14-16. Juli 1990

Bundeskanzler Helmut Kohl und der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow haben am Dienstag eine „Gemeinsame Erklärung“ unterschrieben, die in der von der Deutsche Presse-Agentur verbreiteten Fassung folgenden Wortlaut hat:

Die Bundesrepublik Deutschland und die Sowjetunion stimmen darin überein, dass die Menschheit an der Schwelle zum dritten Jahrtausend vor historischen Herausforderungen steht. Probleme, die von lebenswichtiger Bedeutung für alle sind, können nur gemeinsam von allen Staaten und Völkern bewältigt werden. Das erfordert neues politisches Denken.

  • Der Mensch mit seiner Würde und seinen Rechten und die Sorge für das Überleben der Menschheit müssen im Mittelpunkt der Politik stehen.
  • Das gewaltige Potential an schöpferischen Kräften und Fähigkeiten des Menschen und der modernen Gesellschaft muss für die Sicherung des Friedens und des Wohlstands aller Länder und Völker nutzbar gemacht werden.
  • Jeder Krieg, ob nuklear oder konventionell, muss verhindert, Konflikte in verschiedenen Regionen der Erde beigelegt und der Frieden erhalten und gestaltet werden.
  • Das Recht aller Völker und Staaten, ihr Schicksal frei zu bestimmen und ihre Beziehungen zueinander auf der Grundlage des Völkerrechts souverän zu gestalten, muss sichergestellt werden. Der Vorrang des Völkerrechts in der inneren und internationalen Politik muss gewährleistet werden.
  • Die Erkenntnisse moderner Wirtschaft, Wissenschaft und Technik bieten ungeahnte Möglichkeiten, die allen Menschen zugutekommen sollen. Risiken und Chancen, die sich hieraus ergeben, verlangen gemeinsame Antworten. Es ist daher wichtig, die Zusammenarbeit auf allen diesen Gebieten auszuweiten, Handelshemmnisse jeglicher Art weiter abzubauen, neue Formen des Zusammenwirkens zu suchen und zum beiderseitigen Vorteil dynamisch zu nutzen.
  • Die natürliche Umwelt muss im Interesse dieser und künftiger Generationen durch entschlossenes Handeln gerettet, Hunger und Armut in der Welt müssen überwunden werden.
  • Neue Bedrohungen einschließlich Seuchen und internationaler Terrorismus müssen energisch bekämpft werden.

Beide Seiten sind entschlossen, ihrer sich aus dieser Einsicht ergebenden Verantwortung gerecht zu werden. Fortbestehende Unterschiede in den Wertvorstellungen und in den politischen und gesellschaftlichen Ordnungen bilden kein Hindernis für zukunftsgestaltende Politik über Systemgrenzen hinweg.

Erster Teil der gemeinsamen Erklärung die folgenden Teile beschäftigen sich vorwiegend mit der Sicherheitspolitik